"Streit ist das Wesen der Demokratie"
Winfried Kretschmann analysiert das Wesen des Populismus - Landesvater sieht demokratischen Streit als Antwort

"Wir müssen immer aufs Neue um unsere freie Gesellschaft kämpfen": Ministerpräsident Winfried Kretschmann sprach in der Neuen Aula in Heidelberg zum Thema Populismus. F.: Rothe
Von Michael Abschlag
Heidelberg. "Ich hätte nie gedacht, dass wir die freiheitliche Demokratie noch einmal verteidigen müssen. Ich dachte, dieser Kampf sei vorbei." Ganz am Ende seines Vortrags wird Winfried Kretschmann noch einmal ernst. Seine Zuhörer in der Neuen Aula der Universität blicken nachdenklich Richtung Bühne.
An diesem Dienstagabend spricht der Südwest-Landeschef nicht über Politik - und irgendwie doch wieder. "Sprache des Populismus", lautet der Titel seines Vortrags mit anschließender Podiumsdiskussion mit dem Germanisten Ekkehard Felder. Es ist der Versuch, ein Ungeheuer zu erfassen: Populismus - was ist das eigentlich?
Auf der Suche nach einer Erklärung des Phänomens geht Kretschmann weit zurück. Jede Rede, so der Grünen-Politiker, bestehe laut Aristoteles aus drei Bestandteilen: Redner, Zuhörer und Gegenstand. "Der Gegenstand der Rede muss die Sache sein, um die es geht, und nicht eine Person oder Personengruppe", so Kretschmann.
Das sei eines der wesentlichen Merkmale von Populisten: Sie personalisieren pausenlos. Jeder Satz, jede Bemerkung erhalte einen Negativbezug auf irgendeine Person oder Gruppe.
Um das zu veranschaulichen, betrachtet er ein Beispiel aus der jüngsten Haushaltsdebatte. Dort hatte die AfD-Vorsitzende Alice Weidel gewettert: "Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse" würden den Sozialstaat nicht retten. Für Kretschmann ein typischer Fall von Populismus: "Das hat mit der eigentlichen Sache, dem Haushalt, gar nichts zu tun", erklärt er.
"Stattdessen werden Menschen diffamiert, indem plump Ängste geschürt werden." Dahinter sieht er eine Strategie: "Populisten wollen die Diskussion von der Sache weglenken - denn wenn es um die Sache ginge, müssten sie ja Lösungen anbieten."
Auch demokratische Politiker neigten zwar ab und zu zur Personalisierung, zum direkten Angriff auf den politischen Gegner - doch nur bei den Populisten habe dieses Vorgehen Methode. Immer wieder würden dem Zuhörer neue Sündenböcke präsentiert: "Verkehrspolizisten, farbige Nationalspieler, faule Griechen, Eurokraten, Journalisten, Gutmenschen, Muslime und Flüchtlinge" - "Jede Woche", so Kretschmann, "gibt es ein neues Bohei." Erregung und Empörung würden zum Dauerzustand.
Nicht nur beim Gegenstand der Rede sieht Kretschmann einen Unterschied zwischen Populisten und normalen Politikern. Auch der adressierte Zuhörer sei ein anderer: "Der Hörer ist ja eigentlich eine Vielheit", erklärt er, eine Gruppe von Individuen mit unterschiedlichen Werten und Vorstellungen.
Populisten dagegen glaubten nicht an Vielfalt, sie richteten sich an "das Volk" als vermeintlich homogene Gruppe. Populisten sprächen vom Volk, als sei es eine Einheit, und grenzten alle aus, die ihrer Ansicht nach nicht dazu gehören. Der Gegensatz "Wir gegen die Anderen", sei "der Motor des Populismus".
Kretschmann sieht aber auch Fehler bei Politikern der demokratischen Mitte. Das Kopieren von populistischen Mustern sei ein Problem, aber auch "eine überspannte politische Korrektheit, wie etwa beim Gendern, mit der ich als Grüner ja Erfahrung habe", verkündet er, was im überwiegend studentischen Publikum stellenweise für Stirnrunzeln sorgt.
Kretschmann lässt sich davon nicht beirren: Sprache muss "einfach und klar" sein. "Eine elitäre Sprache erweckt bei vielen Menschen das Gefühl, abgehängt zu sein" und führe "letztlich auch zur Spaltung der Gesellschaft."
Wie soll man also mit Populisten umgehen? Kretschmann sieht die Antwort im demokratischen Streit. "Streit ist das Wesen der Demokratie, er spaltet die Gesellschaft nicht, sondern hält sie zusammen", ist er überzeugt. Und gibt sich am Ende dann doch kämpferisch: "Wir müssen immer aufs Neue für unsere freie Gesellschaft kämpfen."