"Wir müssen unabhängiger von China werden"
Baden-Württembergs Ministerpräsident spricht über Krisenbewältigung als Daueraufgabe, die Zukunft des Standorts und den Wert des Waschlappens in Zeiten der Energieknappheit.



Ministerpräsident von Baden-Württemberg
Von Roland Muschel
Stuttgart. Morgens war er im Land unterwegs, mittags reiht sich in der Regierungszentrale in Stuttgart Termin an Termin, abends spricht er Video-Grußworte ein: Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat nach seinem Urlaub in Schottland volle Arbeitstage. Im Interview präsentiert sich der 74-Jährige erholt – und nachdenklich.
Wie war Ihr Urlaub, konnten Sie die Krisen für ein paar Tage gedanklich hinter sich lassen?
Ja. Ich habe zum Glück viele tüchtige Mitarbeiter, auf die ich mich verlassen kann. In Schottland kennt mich niemand, sodass man etwas Abstand gewinnen kann. Wenn man dann andererseits sieht, wie wenig Häuser in Schottland überhaupt eine Doppelverglasung haben, während wir hier die Standards immer weiter hochtreiben, macht man sich schon Gedanken.
Inwiefern?
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Baden-Württemberg ist für weniger als 0,2 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Unsere Verantwortung ist es, dass unsere klimaneutrale Wirtschaft ökonomisch attraktiv und wettbewerbsfähig ist und als Vorbild für andere taugt. Das haben wir an vielen Stellen auch geschafft. Nehmen Sie die Windkraft und die Solarenergie: Das sind heute ökonomisch konkurrenzlose Güter gegenüber fossilen Energien. Darauf kommt es an. Wir müssen mit Innovation und Technologieführerschaft zeigen, dass wir Dynamik schaffen. Das haben 90 Prozent unserer Betriebe aber längst begriffen. Aber die anderen Regionen der Welt müssen dann schon auch mitziehen.
Sie regieren Baden-Württemberg seit 2011, bei den Erneuerbaren Energien ist Baden-Württemberg aber kein Vorreiter. Woran liegt das?
Bei der Windkraft hatten wir nach einigen Jahren den erwünschten Hochlauf. Dann hat der Bund die Ausschreibungsbedingungen zulasten des Südens geändert. Selbst schuld sind wir an den langen Prozessen von der Idee bis zur Fertigstellung eines Windrads, da habe ich jetzt den Turbo reingehauen, da kriegen wir mindestens eine Halbierung der Zeiten hin. Hinzu kommt: Bund und Land ziehen jetzt endlich zusammen an einem Strang. Bei der Freiflächen-Photovoltaik hätten wir in der Tat mehr machen müssen. Das holen wir jetzt nach – wir heben den Deckel und haben ja auch sonst eine breite Solaroffensive gestartet. Da gibt es kein Vertun und keine Ausreden mehr.
Hat die Energiekrise einen Kollateralnutzen für die Energiewende?
Der Kollateralnutzen von Krisen ist: Das sind disruptive Ereignisse, die einen ganz neuen Handlungsdruck erzeugen. Wir gehen gerade Wege, wir treffen Entscheidungen, die vor ein paar Monaten undenkbar waren. Das war bei Corona so. Dann hat uns der brutale Angriffskrieg Russlands alle wachgerüttelt. Jetzt merkt jeder am Wetter, dass der Klimawandel tatsächlich stattfindet. Die Krisenbewältigung wird für sehr lange Zeit der Normalzustand sein. Das ist eine Chance, das Notwendige endlich anzupacken.
Ist das Land auch krisenresistent? Viele machen sich Sorgen über die Inflation, die Stromrechnung, den Betrieb.
Krisen bergen Unwägbarkeiten. Aber den Menschen, die die Krisen besonders hart treffen, wird die Politik helfen. Dass der Staat dazu in der Lage ist, hat er in der Pandemie gezeigt. Klar ist aber auch: Es wird Wohlstandsverluste geben. Darauf müssen wir uns alle einstellen.
Wie soll der Staat helfen?
Gezielt! Die Zeit der Gießkanne ist vorbei. In Normalzeiten hätte ich gesagt: Absenkung der kalten Progression? Na klar, Christian Lindner. Aber jetzt haben wir Krisenzeiten und die Gefahr, dass die Steuern einfach einbrechen. Hilfen für die, die es am dringendsten brauchen, müssen aber trotzdem erfolgen. Da muss der Staat doch überlegen: Für wen gebe ich das Geld aus und für wen nicht? Die Steigerung der Heizkosten ist für Menschen mit meinem Einkommen kein Problem, ich brauche keine Entlastung. Andere kommen aber ohne Entlastung nicht über die Runden. In so einer Zeit kann man nicht einfach sein Parteiprogramm durchziehen. Wir Grünen verantworten mit der Kohleverstromung gerade Dinge, gegen die wir zu normalen Zeiten Sturm gelaufen wären. Da kann man von der FDP auch mehr Realitätssinn erwarten.
Baden-Württemberg mit seiner energieintensiven Industrie hat lange gut von billigem Gas aus Russland gelebt. Haben die Unternehmen, hat die Politik diese Abhängigkeit mit ihren Gefahren unterschätzt?
Meine Politiker-Generation war sehr geprägt von 70 Jahren Frieden mit einer irgendwie gearteten Balance mit Russland. Ich würde daher keiner der handelnden Personen auf Bundesebene vorhalten: Ihr hättet doch mit dem Schlimmsten rechnen müssen! Wichtig ist, dass wir alle die Lektion sofort gelernt haben. Wir wissen jetzt: Wir müssen Abhängigkeiten abbauen, Lieferketten und Absatzmärkte diversifizieren, die demokratischen Staaten müssen den Handel untereinander verstärken.
Geht es allein um die Verminderung einseitiger Abhängigkeiten oder um einen neuen Blick darauf, mit wem wir eigentlich Handel treiben wollen?
Wir werden auch in Zukunft mit Staaten Handel treiben, die nicht demokratisch sind. Aber wir dürfen uns nicht von ihnen abhängig machen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat einen zweifachen Gang nach Canossa hinter sich: Er musste fossile Energien reaktivieren und er musste sich auf Gas-Geschäfte mit Katar einlassen, das sicher niemand als lupenreine Demokratie bezeichnen wird. Krisen erfordern einfach Realitätssinn. In Krisen wird deutlich: Das kleinere Übel ist eine fortwährende Kategorie der Politik. Jetzt ist Pragmatismus gefragt, Zusammenhalt, der große Blick aufs Ganze. Unsere beiden Vorleute Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen für diesen Realitätssinn.
Was heißt das für den Handel mit China, von dem die Südwest-Industrie stark abhängt?
Wir müssen unabhängiger von China werden. Ich werbe bei unseren Unternehmern schon seit Jahren dafür, den Blick stärker nach Indien zu richten. Das stößt heute auf deutlich mehr Zustimmung als noch vor ein paar Jahren. Wir müssen insgesamt unabhängiger werden. Recycling, Kreislaufwirtschaft und Erneuerbare Energien sind heute nicht nur grüne Ideen und Instrumente gegen Klimawandel, sondern auch eine Frage der nationalen Sicherheit.
Wie groß ist Ihre Angst vor einer Gasmangellage?
Wir müssen alles tun, um eine Gasmangellage zu verhindern. Die Schließung einzelner Industriezweige wäre bei unserer vernetzten Wirtschaft eine Katastrophe mit weitreichenden Auswirkungen. Aber soweit muss es nicht kommen. Die Speicher sind schon zu 75 Prozent gefüllt. Nun müssen wir alle gemeinsam 20 Prozent Einsparungen schaffen, da ist jetzt Schwarmintelligenz gefragt. Deshalb starten wir die Kampagne "CleverLänd". Wir wollen, dass Gegenstand der Gespräche wird: "Was machst Du eigentlich, um Energie zu sparen?"
Und was macht die Privatperson Kretschmann?
Ich habe ein Elektroauto, ich habe eine riesige Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Wir erhitzen unser Wasser seit über 25 Jahren zu 70 Prozent solar. Jetzt habe ich eine Pelletheizung bestellt und hoffe, dass ich sie rechtzeitig vor dem Winter erhalte. Wir heizen in der Regel nur ein Zimmer. Es ist auch gesünder, wenn man im Haus nicht überall die gleiche Temperatur hat. Unser Zuhause ist fast klimaneutral. Nur bei der Reduzierung des Fleischkonsums habe ich noch Luft nach oben.
Aber unter die Kaltduscher gehen Sie nicht?
Man muss nicht dauernd duschen. Auch der Waschlappen ist eine brauchbare Erfindung.
Internationale Großinvestoren wie Intel, Tesla oder Northvolt haben zuletzt einen großen Bogen um Baden-Württemberg gemacht. Was läuft schief?
Sie haben keinen Bogen um Baden-Württemberg gemacht, aber wir haben den Zuschlag nicht erhalten. Daraus haben wir gelernt: Wir verbessern unsere Ansiedlungsstrategie – und das drastisch. Wer sich hier niederlassen will, erhält die Daten, die er braucht, binnen 48 Stunden. Aber klar ist auch: Baden-Württemberg ist ein dicht besiedeltes Land mit einer wachsenden Bevölkerung, der Druck auf die Flächen ist immens. Wir können die Natur aber nicht gnadenlos zubetonieren. Das ist ein Grundkonflikt.
Was folgt daraus?
Wir müssen uns bei der Ansiedlung auf Firmen konzentrieren, die für den Transformationsprozess unserer Kernbranchen wichtig sind. Deshalb habe ich mich auch persönlich für die Errichtung einer Brennstoffzellenfabrik in Weilheim an der Teck eingesetzt. Die Firmen wollen heute nicht nur grünen Strom, sondern auch Sichtbarkeit in Form von Windparks. Das haben inzwischen auch diejenigen beim Koalitionspartner CDU begriffen, die das in der vergangenen Legislaturperiode noch bekämpft haben. Jetzt ziehen wir zum Glück am gleichen Strang.