"Man kann Suizide nicht gänzlich vermeiden"

Trotz Häufung von Selbstmorden hinter Gittern: Baden-Württemberg statistisch betrachtet noch gut ab - Aber Mangel an Psychologen und Psychiatern

17.04.2015 UPDATE: 18.04.2015 06:00 Uhr 2 Minuten, 12 Sekunden

In der JVA Mannheim brachte sich am vergangenen Wochenende ein 23-jähriger Untersuchungshäftling um. Ein vermeidbarer Tod? F:: Gerold

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Was geht nur vor sich im baden-württembergischen Justizvollzug? August 2014: In Bruchsal verhungert ein Häftling. September 2014: Ein 17-Jähriger erstickt im Gefängnis Adelsheim an einer Plastiktüte. "Suizid oder Unfall", so ein Gutachten. Wenige Tage später: Ein 19-Jähriger versucht in der gleichen Haftanstalt, sich das Leben zu nehmen. Samstag vor einer Woche: In der Mannheimer JVA erhängt sich ein 23-Jähriger.

"Jeder Suizid im Justizvollzug ist für uns ein tragischer Fall", heißt es dazu aus dem Haus von Justizminister Rainer Stickelberger (SPD). Doch sind es wirklich unvermeidbare Einzelfälle, oder gibt es gravierende Mängel im System?

28 "ernsthafte Suizidversuche" verzeichnet die offizielle Statistik für das vergangene Jahr, 6 Suizide werden aufgeführt, insgesamt 26 Selbstmorde hinter Gittern in den vergangenen fünf Jahren. Das klingt nach viel - im Bundesländervergleich liegt Baden-Württemberg damit aber unter dem Schnitt, wie aktuelle Zahlen zeigen, die die Rhein-Neckar-Zeitung aus den Landesjustizministerien abfragte.

Rein rechnerisch gibt es im Südwesten jährlich 0,74 Suizide pro 1000 Gefangene - der Durchschnitt in allen 16 Bundesländern liegt bei 0,85. Das gilt auch, wenn man sich der besseren Vergleichbarkeit wegen nur auf die sechs Länder mit einer Jahres-Mittelbelegung von über 4000 Gefangenen beschränkt. 0,82 ist hier die Quote. Der Südwesten steht besser da. Alles in Ordnung also?

Auch interessant
: Nach Bruchsaler Hungertod: Der Druck auf den Justizminister wächst

"Man kann Suizide nicht gänzlich vermeiden", sagt Niels Habermann, Rechtspsychologie-Professor an der SRH Hochschule Heidelberg und seit vielen Jahren als Gutachter in den JVAs im Land tätig. Wer sich umbringen wolle, der finde einen Weg. Verhindern ließe sich das nur mit Rund-um-die-Uhr-Überwachung oder Inhaftierung in spezieller Umgebung - in der "Gummizelle", zur Not mit Papierunterwäsche, um wirklich jedes Instrument, das ein Gefangener gegen sich wenden könne, von ihm fernzuhalten. Ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Im Regelvollzug sei das kaum möglich, nur wenn tatsächlich "Gefahr im Verzug" sei, könne ein Mediziner so etwas anordnen.

Habermann warnt davor, einzelne Fälle überzudramatisieren. "Deutschlandweit hat sich die Suizidrate in den Gefängnissen um die Hälfte reduziert", sagt er mit Blick auf die letzten zehn Jahre, von über 100 auf rund 50 Todesfälle. "Das ist ein klares Zeichen: Wir haben das Thema auf dem Schirm", so Habermann.

Der Psychologe weist jedoch auf eine "Achillesferse des Systems" hin: Es fehle bundesweit weit hinter Gittern an Fachpersonal, an Psychologen und Psychiatern. "Der normale Justizvollzugsbedienstete hat vor allem eine Schlüsselfunktion", so Habermann. Er sei für die Sicherheit zuständig, nicht für die Diagnose psychischer Probleme. "Dafür brauchen wir fachliche Kompetenz. Es reicht nicht, wenn ab und an ein Psychologe von außerhalb kommt", warnt er. Ein Gefangener, der seinen Tod beschlossen habe, wirke glücklich, mit sich im Reinen, führt er aus. Hier die Gefährdung zu erkennen, sei auch für Experten äußert schwierig. Erst recht beim derzeitigen Betreuungsschlüssel. "Zum Davonlaufen", so Habermann.

Ein Problem, das im Justizministerium bekannt ist. "Wir brauchen noch mehr psychologisch ausreichend geschultes Personal, insbesondere auch psychiatrische Fachärzte", hatte Stickelberger bereits Ende März im Gespräch mit der RNZ gewarnt. "Bei den staatlich gezahlten Gehältern ist es jedoch schwierig, Fachärzte für Psychiatrie für den Justizvollzug zu gewinnen." Eine Alternative sei, verstärkt externe Ärzte auf Vertragsbasis einzusetzen. "Wir werden", kündigte der Minister an, "unsere Vorstellungen dann im nächsten Nachtragshaushalt platzieren".

Psychologe Habermann ist sich sicher, ohne besondere Anreize werde kaum Personal für das "schwierige Umfeld" Gefängnis zu finden sein. "Schon, wenn ich als Gutachter für ein paar Stunden in den Knast komme, fängt es an, mich zu bedrücken."