Schülervertreter drohen wegen Abschlussprüfungen mit Klagen
Sind Abschlussprüfungen an Schulen mit weniger Vorbereitung, Begleitung und Sicherheit als sonst überhaupt juristisch wasserdicht? Diese Frage müssen womöglich bald Richter beantworten.

Von Julia Giertz und Sören S. Sgries
Stuttgart/Eberbach. Abschlussprüfungen sollen sein – das betonte Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) schon zu Beginn der Schulschließungen recht deutlich. Immerhin ein bisschen Entgegenkommen deutete sie Mitte März an. "Ob das jetzt die schwersten Prüfungen werden, 2020, das wage ich zu bezweifeln", formulierte sie es diplomatisch. Etwas einfachere Aufgaben, etwas bessere Notengebung – mit dieser Hoffnung, so klang das damals durch, sollte der Abschlussjahrgang 2020 zurück in den Unterricht geschickt werden. Doch der könnte sich jetzt wehren. Juristisch.
Schülervertreter aus zahlreichen Städten Baden-Württembergs drohen mit Klagen gegen das Land, sollten die bevorstehenden Abschlussprüfungen nicht abgesagt werden. Abschlussnoten sollten stattdessen aus den vor Beginn der Pandemie erbrachten Leistungen gebildet werden, schlugen mehr als 65 Schülersprecher am Montag in einer Mitteilung vor. Nur so könnten Gesundheit und Gerechtigkeit im Schulsystem gewährleistet werden.
Der Stuttgarter Rechtsanwalt Engin Sanli unterstützt die Initiative "Abschluss umdenken!" und erläuterte, Schüler könnten wegen beeinträchtigter Vorbereitungsmöglichkeiten oder mangelhaften Infektionsschutzes vor und während der Prüfungen Rügen aussprechen. Deshalb könne es zu Klageverfahren kommen. Die Richter müssten dann entscheiden, ob die Prüflinge zum Beispiel ihr normales Leistungspotenzial wegen Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus nicht abrufen konnten.
Die Schülervertreter wiesen außerdem darauf hin, dass etliche Schüler wegen finanzieller Notlagen ihrer Familien und aus Sorge um Angehörige aus Risikogruppen unter Schlaf- und Konzentrationsproblemen litten. Fernunterricht benachteilige Schüler aus einkommensschwachen Familien, weil ihnen die technische Ausrüstung und ein geeignetes Lernumfeld fehlten.
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Die Zusicherung von Kultusministerin Eisenmann, die Pandemie werde für die Schüler keine Nachteile bringen, sei eine Farce.
Entsprechende Bedenken hatten auch schon die FDP-nahen "Liberale Schüler Baden-Württemberg" in einem Offenen Brief an die Kultusministerin Anfang April angemeldet. "Deshalb möchten wir Sie aufrichtig bitten, eine ersatzlose Streichung aller Prüfungen in Erwägung zu ziehen, sollten wir am 20. April 2020 nicht risikofrei wieder die Schule besuchen können", forderten sie.
Gestern schloss sich auch der SPD-Nachwuchs an, forderte die Absage der Abschlussprüfungen und ein "Durchschnittsabitur". "Die Veränderung der Noten durch die tatsächlichen Prüfungen sind ohnehin gering", sagte der stellvertretende Juso-Landesvorsitzende Luca Baumann. Den Hauptteil des Abiturs machten die Noten der beiden Schuljahre aus. Wer wolle, könnte durch freiwillige Prüfungen versuchen, seine Noten im "Durchschnittsabitur" zu verbessern, so der Vorschlag.
Insgesamt gehe es "schlicht und ergreifend um Bildungsgerechtigkeit", so Wacker. Viele Schüler hätten nicht dieselben Voraussetzungen beim Lernen zuhause. Online zu lernen sei zumeist nur eingeschränkt möglich. Und nicht nur zwischen Schulen, sondern auch zwischen einzelnen Klassen einer Schule gebe es Unterschiede. Sollte Eisenmann an den bisherigen Plänen festhalten, die Abschlussprüfungen schreiben zu lassen, fordern die Jusos zumindest, die zentralen "Pool"-Prüfungsfragen durch dezentrale Aufgaben zu ersetzen.
Warnungen vor einem "Not-Abschluss" gab es vom Leiter des Alexander-Fleming-Gymnasiums in Stuttgart, Anton Metz. Er hält die Forderung der Schülervertreter seiner Schule für "keine gute Idee". Das wäre der erste Jahrgang seit dem Zweiten Weltkrieg mit einem "Not-Abschluss", sagte er. "Das würde die jungen Menschen in den ersten Jahren nach dem Abschluss stigmatisieren."
Er zeigte sich überzeugt, dass die Prüfungen inhaltlich und hinsichtlich des Infektionsschutzes machbar seien. Die Abstandsregeln seien dank ausreichender Räumlichkeiten in seiner recht modernen Schule ebenso einzuhalten wie die Hygienevorgaben. Inhaltlich gebe es für die Korrektur Spielräume bei der Punktevergabe.



