Baden-Württemberg

Polizei demonstriert brutalen Messerangriff in Echtzeit

Eine Übung in Herrenberg zeigt: Bei Messerattacken bleiben Polizisten oft nur Sekunden – der Einsatz der Schusswaffe gilt als einzige Überlebenschance.

05.09.2025 UPDATE: 05.09.2025 04:00 Uhr 3 Minuten, 6 Sekunden
Selim Altinsoy ist Fachreferent für Abwehr- und Zugriffstraining am Institut für Einsatz und Training an der Hochschule der Polizei Baden-Württemberg. Hier demonstriert er, wie unerwartet und schnell ein Messerangriff aus direkter Nähe erfolgen kann. Dass er die Messerattrappe schon in der Hand hält (l.) lässt sich kaum erkennen. Fotos: Bäuerlein

Von Ulrike Bäuerlein, RNZ Stuttgart

Herrenberg. Als er routinemäßig angesprochen wird von dem Polizeibeamten, bleibt der Mann ruhig stehen. Er hält beide Hände locker in Höhe der Gürtelschnalle vor dem Bauch verschränkt, sieht entspannt aus. Nichts deutet auf eine Eskalation der Situation hin.

Bis der Mann unvermittelt einen leichten Schritt und eine Bewegung nach vorne macht, eine der beide Hände nach vorne schnellt. In seiner Faust blitzt auf einmal ein Krummdolch mit einer 12-Zentimeter-Klinge auf, den er im Hosenbund stecken hatte, den Griff hinter den Händen verborgen.

Es folgen drei äußerst gezielte, mit großer Gewalt und blitzschnell ausgeführte tiefe Schnitte im Bereich der Pulsadern, der Oberschenkelarterie und der Halsschlagader des angegriffenen Polizisten. Alles in Sekundenbruchteilen, ohne dass der Angegriffene recht weiß, was geschieht, sich verteidigen oder gar zu seiner Waffe greifen kann. Blut spritzt. Ohne sofortige Hilfsmaßnahmen verblutet der angegriffene Polizist binnen weniger Minuten.

Hintergrund

> Polizeiliche Kriminalstatistik 2024: 2024 haben die Messerangriffe in Baden-Württemberg gegenüber dem Vorjahr um rund 3,2 Prozent zugenommen. 40 Prozent fielen auf Bedrohungen, ein Drittel auf gefährliche Körperverletzungen, 20 Prozent auf Raubdelikte und fünf Prozent

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> Polizeiliche Kriminalstatistik 2024: 2024 haben die Messerangriffe in Baden-Württemberg gegenüber dem Vorjahr um rund 3,2 Prozent zugenommen. 40 Prozent fielen auf Bedrohungen, ein Drittel auf gefährliche Körperverletzungen, 20 Prozent auf Raubdelikte und fünf Prozent auf Mord und Totschlag. Der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger betrug im Jahr 2024 über 52 Prozent. Etwa jeder sechste Tatverdächtige eines Messerangriffs im öffentlichen Raum im Jahr 2024 war ein Asylsuchender oder Geflüchteter.

> Schusswaffeneinsatz: 2024 schossen Polizisten in Baden-Württemberg 13 Mal auf Menschen, dreimal waren die Schüsse tödlich, neun Personen wurden verletzt.

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Die Szene, zu erleben am Mittwochmittag in der Aula der Polizeihochschule Baden-Württemberg am Standort Herrenberg im Kreis Böblingen, ist nur gespielt. Der Dolch ist stumpf, das Blut, das bei Körperkontakt aus dem Dolch dringt, ist Kunstblut, und die beiden Männer, Jürgen Kestner, der den Angreifer gibt, und Selim Altinsoy, sind Kollegen und Einsatztrainer bei der baden-württembergischen Polizei.

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Altinsoy steht unverletzt wieder auf, nur an seinem muskulösen Arm bilden sich dicke rote Striemen, die zeigen, dass die Angriffswaffe zwar stumpf war, aber auch der Scheinangriff mit großer Gewalt ausgeführt wurde.

Dennoch bleibt es einen Moment lang still in der Aula nach den beklemmenden Szenen. Denn allen – den anwesenden Medien- und Kameraleuten, den Repräsentanten der Landespolizei mitsamt Innenminister Thomas Strobl (CDU) und Landespolizeidirektor Norbert Schneider – ist gerade plastisch vor Augen geführt worden, wie schutzlos nichts ahnende Beamte bei einem brutalen, unerwarteten Messerangriff aus nächster Nähe sind.

Wie schnell es lebensgefährlich werden kann. Und dass die einzige Überlebenschance für Polizeibeamte in dynamischen Situationen der unmittelbare Einsatz der Schusswaffe sein kann.

Wenn genug Zeit bleibt, sie zu ziehen. Sieben Meter Entfernung zum Angreifer gelten als ausreichend, sagte Landespolizeidirektor Schneider, alles darunter sei lebensgefährlich. Der Name Rouven Laur, an den der Innenminister schon in seiner kurzen Ansprache zu Beginn der Veranstaltung erinnert hatte, steht kurz im Raum. Der junge Polizist war am 2. Juni 2024 in Mannheim an den Folgen eines heimtückischen Messerangriffs gestorben.

Messerattacken, der Einsatz von Hieb- und Stichwaffen bei Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, aber auch bei Kneipenschlägereien oder im Bereich häuslicher Gewalt, haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. "Messer sind gefährlich, billig, leicht zu besorgen, leicht zu verstecken und tödlich", begründet Strobl.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist für 2024 in Baden-Württemberg 3787 Messerangriffe aus, jeden Tag zehn, und das sind nur die polizeilich erfassten. 24 Menschen starben dabei, 201 wurden schwer verletzt. Jeden zweiten Tag – 162 Mal – wurden Polizisten im Land mit einem Messer angegriffen. Und 222 Messerattacken erfolgten in Bussen und Bahnen.

Nicht nur die Politik hat auf die rasant wachsende Messerkriminalität reagiert, Kommunen dürfen großflächig Messerverbotszonen ausweisen, im gesamten öffentlichen Personennahverkehr in Baden-Württemberg ist seit Juni 2025 das Mitführen von Messern und Waffen jeder Art, auch kleiner Taschenmesser, bei Androhung eines hohen Ordnungsgeldes generell verboten.

Auch die Polizei muss sich im Alltag auf den Umgang mit den neuen Gefahrenszenarien durch Messer einstellen – ob beim Training und in der Ausbildung, wie in Herrenberg demonstriert, oder bei der Schutzausrüstung. Am Rande des Termins an der Polizeihochschule kündigen Strobl und Schneider etwa an, dass die Landespolizei künftig mit einer in Teilen schnitthemmenden Uniform ausgerüstet werden soll. Details und Termine gibt es aber noch nicht.

Aber vor allem muss die Polizei auch bei Routineeinsätzen inzwischen standardmäßig mit Messerattacken rechnen – und darauf gefasst sein, sofort zur Schusswaffe zu greifen. So wie Ende Juni dieses Jahres in Wangen im Kreis Göppingen, als zwei Polizisten bei einer Routineaufsuchung eines Asylbewerbers mit dem Messer attackiert wurden, einer wurde schwer verletzt. Der Angreifer starb durch Schüsse aus der Waffe des anderen Polizisten.

Als eine Woche später im Stuttgarter Osten unter noch ungeklärten Umständen ein Polizist nächtens einen fliehenden Täter ebenfalls erschoss, kam die Frage auf: Sitzt der Polizei die Waffe zu locker?

Eine Diskussion, die Innenminister Strobl zusätzlich mit dem Satz befeuerte: "Wer in Baden-Württemberg einen Polizeibeamten mit einem Messer angreift, hat sich entschieden, nicht mehr zu leben." Auch aus dieser Diskussion heraus entschied sich die Polizeiführung zu der Praxisdemonstration in Herrenberg.

Strobl fühlt sich, wie er anschließend in die Kameras sagt, bestärkt und hofft, dass die Botschaft dieser eindrücklichen Demonstration auch nach außen dringt. "Ich bleibe dabei", sagt der Innenminister. Gundram Lottmann, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), der mit seinem Stellvertreter Thomas Mohr nach Herrenberg gekommen ist, stärkt dem Innenminister den Rücken. "Man hat sofort gesehen, was für eine Gefahr davon ausgeht, wenn jemand im Umgang mit dem Messer geübt ist." Wer nicht zur Waffe greife in einem solchen Fall, der sei unter Umständen eben Sekunden später tot.

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