Baden-Württemberg

Experten sehen geplanten Partei-Ausschluss von Palmer kritisch (Update)

Boris Palmer ist Oberbürgermeister der zwölftgrößten Stadt Baden-Württembergs. Mit seinen Äußerungen schafft es der Grüne immer wieder in die Schlagzeilen. Nun will die Partei ihn loswerden. Erweist sie sich damit im Wahlkampf einen Bärendienst?

08.05.2021 UPDATE: 10.05.2021 14:08 Uhr 6 Minuten, 41 Sekunden
Boris Palmer
Boris Palmer (Grüne), Oberbürgermeister von Tübingen. Foto: Marijan Murat/dpa

Tübingen. (dpa/lsw) Das Parteiausschlussverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer könnte für die Grünen im Wahlkampf aus Sicht von Experten nach hinten losgehen. Über Monate werde jetzt immer wieder die Debatte um die umstrittenen Äußerungen Palmers und somit auf Parteiinterna in den Mittelpunkt gerückt, sagte der Freiburger Politikwissenschaftler Ulrich Eith am Montag der Deutschen Presse-Agentur. "Das lenkt von dem ab, um was es den Grünen jetzt im Wahlkampf gehen muss: Bürger überzeugen und Lösungen für die drängenden Zukunftsfragen zu finden." Palmer selbst räumte inzwischen einen Fehler ein und warf Teilen seiner Partei "Ausgrenzung" vor.

Die Grünen werfen Palmer Rassismus vor wegen einer bei Facebook geposteten Aussage über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo, der einen nigerianischen Vater hat, und wollen ihn aus der Partei schmeißen. Mit einer Dreiviertelmehrheit hatte der Landesparteitag am Wochenende für ein Ausschlussverfahren gestimmt.

Das Verfahren hat nach Eiths Einschätzung geringe Chancen auf Erfolg, weil für einen Ausschluss Vorsatz oder großer Schaden belegt sein müssten. Ob das gelinge, sei fraglich. Besser wäre aus seiner Sicht gewesen, die Grünen hätten sich inhaltlich deutlich distanziert und klargemacht, dass es sich nur um die Meinung eines Einzelnen handle. Die Grünen entwickelten sich gerade zu einer Volkspartei mit realistischen Chancen auf das Kanzleramt. "Da muss die Partei auch ein Stück weit Querköpfe in den eigenen Reihen aushalten."

Ähnlich äußerte sich Parteienforscher Nils Diederich. "Besser wäre es aber zu sagen: Mein lieber Palmer, so geht das nicht, das musst du zurücknehmen", sagte er unter anderem der "Südwest Presse" und der "Schwäbischen Zeitung" (Montag). "Inhaltlicher Streit statt administrativer Hammer. Die Erfahrung ist, dass solche Diskussionen einer Partei gar nicht schaden müssen, sie nützen sogar manchmal." Vermutlich werde die Sache zwar bis zur Bundestagswahl Ende September vergessen sein, sagte Diederich. "Es sei denn natürlich, die ganze Geschichte zieht sich bis kurz vor den Wahltag."

Parteienrechtsexperte Martin Morlok sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Montag): "Parteiausschlussverfahren dürfen kein Instrument im innerparteilichen Machtkampf sein." Deshalb könne ein Ausschluss nur von Schiedsgerichten gemacht werden, in denen keine Vorstandsmitglieder vertreten sein dürfen. "Dass eine Partei Mitglieder zwingt, eine Parteimeinung und nur diese Meinung zu vertreten, damit habe ich etwas Schwierigkeiten", sagte er. Dass sich Palmers Verhalten klar gegen die Partei richte, sehe er nicht.

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Hingegen räumte die Düsseldorfer Parteienforscherin Sophie Schönberger einem Ausschlussverfahren durchaus gute Erfolgschancen ein - angesichts des Inhalts der Äußerung, um die es geht, und der exponierten Stellung Palmers. Allerdings gebe es bisher kaum Fälle, in denen die Grünen Mitglieder aufgrund öffentlicher Äußerungen ausgeschlossen haben, "so dass kein allzu großer Erfahrungsschatz in Bezug auf die Praxis der Schiedsgerichte besteht".

Parteichefin und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hatte das Ausschlussverfahren am Samstag via Twitter gewissermaßen angekündigt. "Sie hat sich sozusagen das Kanzlerinnenkostüm angezogen und nach der Devise gehandelt: Wenn jemand abweicht von meiner Linie, dann schadet der mir", sagte Diederich von der Freien Universität Berlin. Baerbock habe klar auf Ansage gesetzt. "Und die lautet: Ich bin die, die vorne steht - und die anderen sollen mir folgen. Es ist geradezu symbolisch: Die Grünen werden eine stinknormale Partei."

Palmer sagte der "Bild"-Zeitung (Montag): "Natürlich wäre es wohl gescheiter gewesen, es gar nicht zu posten." Aber darum gehe es nicht. "Argumente in der Sache sind mir immer willkommen, ich wehre mich gegen Ausgrenzung und Denunziation", sagte der 48-Jährige. "Teile der politischen Führung der Partei haben sich der linken Identitätspolitik verschrieben." Wegen zahlreicher provokanter Äußerungen liegt die Partei seit langem mit ihm im Clinch.

Der Oberbürgermeister wollte nach eigenen Worten keine Aufmerksamkeit erhaschen. "Nein, das war kein Kalkül, auch keine Provokation für die Öffentlichkeit", schrieb er am Montagmorgen auf Facebook. "Ich hatte keine Ahnung, welches Erdbeben ich da mal wieder auslöse." Er habe "einem meiner langjährigen innerparteilichen Gegner" zu verstehen geben wolle, wie absurd er seine konstruierten Rassismusvorwürfe finde. "Gewissermaßen pädagogische Satire." Er hätte sich aber denken müssen, "was der daraus machen würde", schrieb Palmer. "Den Vorwurf der Naivität lasse ich mir deshalb gefallen."

Die Südwest-Grünen rechnen damit, dass das Verfahren zwischen drei und sechs Monate dauern könnte, wie die Deutsche Presse-Agentur in Stuttgart erfuhr. Palmer sagte der "Bild": "Ich bin sicher, dass mich das Schiedsgericht freisprechen wird. Mir werden ja Vorwürfe gemacht, die meine Absichten in ihr Gegenteil verkehren." Um das zu klären, habe auch er sich für dieses Verfahren ausgesprochen.

Nach Eiths Einschätzung sind die Chancen groß, dass die Grünen sich mit dem Ausschlussverfahren eher schaden. Im Fall der SPD und Thilo Sarrazin habe man gesehen, dass sich so ein Prozess über Jahre ziehen kann. Und als Oberbürgermeister habe Palmer hohe Zustimmung sowie mit dem Corona-Modellprojekt in Tübingen Reputation gewonnen. Daher habe er in Baden-Württemberg größere Bedeutung, sagte Eith. Zugleich räumte er aber ein: "Die bundesweiten Effekte mögen geringer sein."

Update: Montag, 10. Mai 2021, 14.08 Uhr


Südwest-Grüne leiten Ausschlussverfahren gegen Boris Palmer ein

Stuttgart/Tübingen. (dpa) Die Grünen in Baden-Württemberg wollen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer aus der Partei ausschließen. Beim Landesparteitag stimmten 161 Delegierte für ein Ausschlussverfahren, 44 dagegen und 8 enthielten sich. Palmer hatte zuvor auf Facebook mit Aussagen über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo für Empörung gesorgt.

Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand sagte in Stuttgart zum Ausschlussverfahren gegen Palmer: "Die Zeit ist reif dafür. Denn das Maß ist voll." Zuvor hatte er schon erklärt, die Äußerung Palmers über Aogo sei "rassistisch und abstoßend". Der Tübinger OB sorge mit "inszenierten Tabubrüchen" für eine Polarisierung der öffentlichen Debatte.

Der Tübinger OB ließ sich vor der Abstimmung für eine Gegenrede zum Parteitag schalten und erklärte, es handele sich um "haltlose und absurde Vorwürfe". Hier gehe es darum, abweichende Stimmen zum Verstummen zu bringen. "Daher kann und will ich nicht widerrufen." Allerdings empfahl er dem Parteitag, dem Antrag für ein Ausschlussverfahren zuzustimmen. Dann habe er endlich die Gelegenheit, sich gegen die Anwürfe zu verteidigen.

Die Landespartei hatte Palmer schon im Mai 2020 den Austritt nahegelegt und ihm ein Ausschlussverfahren angedroht. Schon damals hatte Palmer mehrfach mit provokativen Äußerungen für Empörung gesorgt, unter anderem mit einem Satz zum Umgang mit Corona-Patienten. "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", sagte er in einem Interview.

Aktuell geht es um eine Diskussion mit Facebook-Nutzern, bei der Palmer am Freitag einen rassistischen und obszönen Begriff aus einem Aogo zugeschriebenen Zitat wiederholte und kommentierte, offensichtlich ironisch: "Der Aogo ist ein schlimmer Rassist." Zur Begründung verwies er auf einen nicht-verifizierten Facebook-Kommentar, in dem ohne jeden Beleg behauptet worden war, Aogo habe für sich selbst das N-Wort benutzt. Mit dem Begriff N-Wort wird heute eine früher in Deutschland gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erklärte am Samstagvormittag: "Die Äußerung von Boris #Palmer ist rassistisch und abstoßend. Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen. Das Ganze reiht sich ein in immer neue Provokationen, die Menschen ausgrenzen und verletzen. Boris Palmer hat deshalb unsere politische Unterstützung verloren. Nach dem erneuten Vorfall beraten unsere Landes- und Bundesgremien über die entsprechenden Konsequenzen, inklusive Ausschlussverfahren."

Palmer selbst erklärte am Samstag in einem langen Facebook-Statement, er habe eine Debatte mit dem Stilmittel der Ironie ins Groteske überzeichnet. "Meine Kritik am Auftrittsverbot von Aogo und Lehmann mit Rassismus in Verbindung zu bringen, ist so absurd, wie Dennis Aogo zu einem "schlimmen Rassisten" zu erklären, weil ihm im Internet rassistische Aussagen in den Mund gelegt werden."

Update: Samstag, 8. Mai 2021, 15.11 Uhr


Palmer eckt mit Aogo-Äußerungen an - Grüne beraten über Ausschluss

Der Tübinger Oberbürgermeister verwendet das N-Wort im Zusammenhang mit Ex-Nationalspieler Aogo und will das als ironische Groteske verstanden wissen. Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock nennt dies "rassistisch und abstoßend". Muss Palmer die Partei verlassen?

Tübingen. (dpa) Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat auf Facebook mit Aussagen über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo für Aufsehen gesorgt - nun muss der Grüne mit Konsequenzen seiner Partei rechnen. Im Zuge der Diskussion mit Facebook-Nutzern griff Palmer am Freitag ein Aogo zugeschriebenes Zitat auf und kommentierte, offensichtlich ironisch: "Der Aogo ist ein schlimmer Rassist." Zur Begründung verwies er auf einen nicht-verifizierten Facebook-Kommentar, in dem ohne jeden Beleg behauptet worden war, Aogo habe für sich selbst das N-Wort benutzt. Mit dem Begriff N-Wort wird heute eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.

Zahlreiche Nutzer warfen Palmer daraufhin Rassismus vor. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil twitterte am Freitagabend: "Ist das Palmer Zitat echt? Wenn ja: Haben die Grünen sich schon geäußert dazu?"

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erklärte am Samstagvormittag: "Die Äußerung von Boris #Palmer ist rassistisch und abstoßend. Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen. Das Ganze reiht sich ein in immer neue Provokationen, die Menschen ausgrenzen und verletzen. Boris Palmer hat deshalb unsere politische Unterstützung verloren. Nach dem erneuten Vorfall beraten unsere Landes- und Bundesgremien über die entsprechenden Konsequenzen, inklusive Ausschlussverfahren."

Palmer selbst erklärte am Samstag in einem langen Facebook-Statement, er habe eine Debatte mit dem Stilmittel der Ironie ins Groteske überzeichnet. "Meine Kritik am Auftrittsverbot von Aogo und Lehmann mit Rassismus in Verbindung zu bringen, ist so absurd, wie Dennis Aogo zu einem "schlimmen Rassisten" zu erklären, weil ihm im Internet rassistische Aussagen in den Mund gelegt werden."

Unter der Überschrift "@Cancel Culture" hatte Palmer bei Facebook zunächst bedauert, dass der frühere Nationalspieler Aogo vorerst nicht mehr als Experte beim Fernsehsender Sky auftreten wird. Aogo hatte am Dienstagabend im Rahmen einer Champions-League-Übertragung den Ausdruck "Trainieren bis zum Vergasen" verwendet und sich anschließend für diesen verbalen Fehltritt entschuldigt.

Palmer schrieb dazu und zum Rauswurf von Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann bei Hertha BSC: "Lehmann weg. Aogo weg. Ist die Welt jetzt besser? Eine private Nachricht und eine unbedachte Formulierung, schon verschwinden zwei Sportler von der Bildfläche." Lehmann hatte in einer Kurznachricht gefragt, ob Dennis Aogo wohl ein "Quoten-Schwarzer" sei.

Palmer fügte hinzu: "Nun schaue ich mir das nie an und vielleicht sind Sportler auch nicht immer die besten Kommentatoren. Aber der Furor, mit dem Stürme im Netz Existenzen vernichten können, wird immer schlimmer." Und weiter: "Cancel culture macht uns zu hörigen Sprechautomaten, mit jedem Wort am Abgrund."

Auf dpa-Anfrage zu seiner Wortwahl teilte Palmer am Samstagvormittag mit: "Ich habe Aogo gegen einen unberechtigten Shitstorm in Schutz genommen. Daraus wird durch böswilliges Missverstehen ein Rassismusvorwurf. So wird ein repressives Meinungsklima geschaffen. Ich halte es geradezu für eine Bürgerpflicht, diesem selbstgerechten Sprachjakobinertum die Stirn zu bieten."

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