Simon Teune im Interview

Der Protestforscher über die Klimaproteste der "Letzten Generation"

Die Tragweite des Themas ist "immer noch nicht angekommen" und "die Leute im Stau sind nicht der Kanzler".

12.08.2022 UPDATE: 12.08.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 17 Sekunden
April 2022: Aktivisten der „Letzten Generation“ haben sich in Frankfurt auf der A 66 festgeklebt. Auch in der Region gab es ähnliche Aktionen, etwa in Heidelberg. Foto: Gollnow/dpa
Interview
Interview
Simon Teune Berliner Protestforscher

Von Charlotte Morgenthal

Berlin. Die Aktivisten der "Letzten Generation" wollen insbesondere mit bundesweiten Straßenblockaden die Bundesregierung zum Handeln gegen die Klimakrise zwingen. Der Berliner Protestforscher Simon Teune bezweifelt, dass die Aktionen einen direkten Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausüben. Aber sie sorgten dafür, dass das Thema an der Oberfläche bleibe, sagt der Vorstandsvorsitzende des Instituts für Protestforschung.

Aktivisten der "Letzten Generation" kleben sich beispielsweise vor Autobahnauffahrten auf dem Asphalt fest, um für den Klimaschutz zu protestieren. Sind derartige Protestformen gerechtfertigt?

Es gibt immer wieder historische Beispiele, in denen störende Proteste gesellschaftliche Entwicklungen beschleunigt haben. Auch bei der Klimakrise gibt es einen deutlichen Handlungsbedarf und das Zeitfenster, in dem etwas getan werden kann, schließt sich langsam. Aber bei Aktionen von zivilem Ungehorsam und Störungsaktionen stellt sich immer auch die Frage, wie es aufgenommen wird und wie es für die Menschen vermittelbar ist. Es gibt Beispiele, da werden Zusammenhänge unmittelbar klar, wenn etwa eine Sitzblockade auf den Gleisen einen Castor-Transport behindern soll.

Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen der Klimakrise und dem Autoverkehr, aber die Leute, die auf der Autobahn behindert werden, sind nicht der Bundeskanzler. Und Olaf Scholz ist im Prinzip der Adressat der Forderungen der "Letzten Generation." Daher ist es für viele schwierig, diese Proteste nachzuvollziehen. Gleichzeitig gibt es ein großes gesellschaftliches Verständnis für die Ziele der Aktionen und dafür, dass sie nicht untätig bleiben wollen. Ich würde nicht sagen, dass diese Aktionen die Menschen weg von der Klimabewegung führen.

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Ziel der "Letzten Generation" ist es, die Regierung zum schnellen Handeln für den Klimaschutz zu zwingen. Haben sie damit Erfolg?

Ob die Aktionen konkret den Handlungsdruck für Olaf Scholz erhöhen, würde ich erst mal bezweifeln. Es gibt natürlich den indirekten Druck, dass die Aktionen regelmäßig stattfinden und es damit eine regelmäßige Störung gibt. Damit sorgt die "Letzte Generation" für eine Medienberichterstattung und dafür, dass das Thema der Klimakrise weiter an der Oberfläche bleibt. Für die politisch Verantwortlichen ist das aber eher ein Rauschen.

Heute werden die Suffragetten, die vor mehr als 100 Jahren für das Frauenwahlrecht kämpften, sehr positiv gesehen, aber wenn man sich die sehr störenden Aktionen anschaut, hätten sie heute wütende Schlagzeilen erzeugt. Im Nachhinein werden ihre Errungenschaften als fortschrittlich und sinnvoll für die Menschen gesehen. So dürfte es auch bei den Klimaprotesten sein. Diese laufen außerdem alle sehr zivilisiert und friedlich ab, und es gibt keine Morddrohungen gegen Politiker oder Angriffe auf die verantwortlichen Unternehmen. Dass unter diesen Umständen vor allem über die Formen geredet wird, zeigt auch, wo wir mit der gesellschaftlichen Debatte zur Klimakrise stehen. Die Tragweite ist immer noch nicht angekommen.

Gibt es denn in Deutschland Beispiele von gewaltsameren Protesten?

Wenn man sich die Protestlandschaft heute ansieht, wird bei der extrem Rechten und Verschwörungsgläubigen, etwa im Kontext von Corona, tagtäglich zu Gewalt aufgerufen. Dort wird auch gegenüber Polizei und Journalisten Gewalt ausgeübt, es gibt Tötungsfantasien gegenüber den politisch Verantwortlichen oder denjenigen, die Impfungen durchführen. Bei diesem Teil der Protestkultur werden Menschenleben gefährdet und eine Atmosphäre erzeugt, in der Gewalt als gerechtfertigt angesehen wird. Das gilt nicht für die Klimabewegung.

Zukünftig müssen wir uns aber aufgrund der Klimakrise mit ganz anderen Arten von Konflikten auseinandersetzen. Wenn die Ressourcen knapp werden und es Verteilungskämpfe gibt, wird die Klimakrise noch mehr Gewalt erzeugen. In absehbarer Zeit, vielleicht schon in zehn Jahren, werden wir massive Migrationsbewegungen haben und bürgerkriegsähnliche Gewalt in ganz anderem Umfang erleben.

Die "Letzte Generation" ist zuversichtlich, dass ihre Aktionen auch von den Gerichten als nicht strafbar eingestuft werden. Wie sehen Sie das?

Da ich kein Jurist bin, kann ich das schlecht beurteilen. Tatsächlich gibt es gegenüber zivilem Ungehorsam und Blockaden zumindest in der letzten Instanz eine weniger auf Abstrafung ausgerichtete Rechtsprechung. Aber es gibt immer wieder zum Teil empfindliche Geldstrafen. Und im Kontext von Blockaden und Besetzungen gab es recht krasse Urteile gegen Klimaaktivisten. Beispielsweise wurde eine Person, die im Hambacher Forst während der Räumung trommelte, zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Ihr wurde Beihilfe zur versuchten Körperverletzung vorgeworfen, weil andere gleichzeitig Böller warfen.

Sind Menschen in Deutschland verpflichtet, auch in extremen Formen gegen die Klimakrise zu protestieren, weil im demokratischen Rechtsstaat keine massiven Konsequenzen drohen?

Erst mal sehe ich nicht, dass extreme Formen genutzt werden. Das wären für mich Anschläge und Gewalt gegen Menschen. Und auch die sind ja in einem Rechtsstaat sanktioniert. Aber es ist ein Privileg, dass wir in Deutschland für die Teilnahme an Protestaktionen nicht für Jahrzehnte in den Knast geschickt oder ermordet werden. In Südamerika oder anderen Teilen der Welt gibt es viele Umweltaktivisten, denen das passiert.

Werden sich auch die Aktionen der "Letzten Generation" irgendwann abnutzen?

Die Entwicklung ist nicht so leicht absehbar. Es wird sicher schwierig sein, diese Aktionen über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Es gibt allerdings auch immer wieder neue Leute, die dazu stoßen. Die Diskussion, was sinnvolle und wirksame Aktionsformen sind, ist in vollem Gange. Für die Aktivisten ist es offensichtlich, dass schnell in Sachen Klimaschutz sehr viel mehr passieren muss. Eine Grundvoraussetzung für erfolgreichen Protest ist immer, dass eine Aktion anderen Leuten einleuchtet und klar wird, worum es geht.