Haben Exzesse mit Herkunft der Täter, Armut oder Alkohol zu tun?
Die Ursachenforschung nach der Gewalt zu Silvester läuft. Innenministerin Faeser: Polizei muss konsequent in Brennpunkte gehen.

Von Anne-Béatrice Clasmann und Verena Schmitt-Roschmann
Berlin. Nach den Angriffen in der Silvesternacht stellen sich Fragen: Hat sich die Politik zu wenig um Problemviertel gekümmert? Haben die Exzesse mit Armut zu tun oder eher mit der Herkunft der Täter?
Der ehemalige Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten Fritz Felgentreu zieht auf Twitter eine ernüchternde Bilanz: "Junge Leute, die sonst wenig haben, auf das sie stolz sein können, richten sich an einem muslimisch interpretierten Machismo auf. Ein schwacher Staat steht ihrer Randale ratlos gegenüber. Das ist das eigentliche Problem." Es gehe nicht nur um "kulturelle Prägung", sondern auch "um die Frage der sozialen Durchlässigkeit einer Einwanderungsgesellschaft" und die "Durchsetzungskraft eines demokratischen Rechtsstaats".
Für Hakan Demir, der jetzt für die Berliner SPD im Bundestag ist, führen kulturelle Erklärungsansätze dagegen in die Irre. Wer Polizei oder Feuerwehr angreife, mache sich strafbar. "Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass Gewalt vor allem da entsteht, wo Armut herrscht."
Laut Polizei waren unter den 145 Festgenommenen 45 Deutsche und 17 weitere Nationalitäten, darunter 27 Afghanen und 21 Syrer. 94 sind jünger als 25 Jahre, davon 27 minderjährig. 139 der 145 sind männlich.
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"Wir haben in deutschen Großstädten ein großes Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden", sagt Innenministerin Nancy Faeser (SPD). "Die Polizei muss sehr konsequent in Brennpunkte hineingehen."
Die FDP-Innenpolitikerin Linda Teuteberg sagt, die Ursachen hätten nicht nur, aber auch mit Defiziten in der Migrationspolitik zu tun. "Wer gelingende Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt will, darf reale Probleme nicht beschweigen", fordert sie.
Menschen, die meinten "über dem Gesetz zu stehen", gebe es nicht nur bei Gewalttätern mit Migrationshintergrund, meint Teuteberg, sondern etwa auch bei Linksextremisten und radikalen Klimaaktivisten. Wer von "legitimen Rückzugsräumen" spreche, verharmlose Gewalt und Selbstjustiz und werde dadurch selbst Teil des Problems.
Ed Greve arbeitet seit fünf Jahren für den Migrationsrat Berlin, einem Dachverband von etwa 70 Vereinen. Ihn stören in der Debatte Verallgemeinerungen. Etwa ein Drittel der Berliner hätten eine Migrationsgeschichte, sagt er. Die Gewalt sei kein Integrations-, sondern "auch, aber nicht nur, ein soziales Problem".
Sabour Zamani, 67, lebt seit 44 Jahren in Deutschland. Der Sozialpädagoge und Leiter eines afghanischen Kulturzentrums arbeitet auch als gesetzlicher Betreuer. Er erzählt von der räumlichen Enge in Flüchtlingsheimen. Von der rechtlichen Unsicherheit ohne gesicherten Aufenthalt, obwohl in der Heimat Krieg herrsche. "Diese Situation macht jeden Menschen krank", sagt Zamani. "Wenn sie keine Hilfe bekommen, das führt zu Aggression." Zur Lösung gehören für Zamani die Instrumente, um die sich die Debatte seit Jahren dreht: gesicherter Rechtsstatus, Zugang zum Arbeitsmarkt und Deutschkurse.
An Silvester sei sicher auch Alkohol dazu gekommen, der eine große Rolle bei Enthemmung spiele. "Wir sehen das auch im Fußballstadion, wenn fast zu 100 Prozent Deutsche da sind". > S. a. Metropolregion