Plus Nach den Silvester-Krawallen

Gewaltkriminalität ist "jung und männlich"

Wer waren die Täter und was ist jetzt zu tun? Die Fragen und auch die meisten Antworten klingen altbekannt. Die Frage scheint eher: Wird die Debatte etwas ändern?

04.01.2023 UPDATE: 04.01.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 26 Sekunden
Die Überreste eines in der Silvesternacht ausgebrannten Reisebusses in Neukölln. Foto: dpa

Von Serhat Koçak und Verena Schmitt-Roschmann

Berlin. Ein verkokelter Bus mit platten Reifen und eingeschlagenen Fenstern steht in einer rußgeschwärzten Durchfahrt an der Sonnenallee. "Wenn man sowas vor seiner Haustür sieht, ist das schon krass", sagt der 30-jährige John, der nur wenige Meter entfernt wohnt. Er war an Silvester bewusst nicht in Neukölln. Zu gefährlich. Aber er hofft, dass sich nach den Krawallen etwas ändert. "Ich will nicht mit Angst durch mein Viertel laufen."

Der abgefackelte Bus, die Angriffe mit Feuerwerk, Polizisten und Feuerwehrleute, die um ihr Leben fürchteten: Die Gewaltexzesse in der Hauptstadt sorgen bundesweit für Entsetzen.

Offizielle Daten über die Angreifer sind noch spärlich. Am Neujahrsmorgen hatte die Polizei mitgeteilt, sie habe 103 Verdächtige festgenommen – 98 Männer und fünf Frauen. Bis Montag erhöhte sich die Zahl auf 159. Aber wer ist das genau? Erkenntnisse lägen wohl im Laufe der Woche vor, sagt ein Polizeisprecher.

Der Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf, sagt: "Man kann die Tatsachen nicht wegleugnen." Auf Videos sehe man "genau, mit was für Tätern wir es zu tun haben. Das sind überwiegend junge Männer mit Migrationshintergrund." Und dies sei keine neue Erkenntnis. "Es ist seit 20 Jahren so, dass Gewaltkriminalität jung und männlich ist."

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Damit nimmt eine Debatte neu Fahrt auf, die Deutschland nach den Übergriffen in Köln 2015/2016 erlebte. Im beginnenden Wahlkampf vor der Wiederholungswahl in Berlin im Februar dürfte das Thema noch hochkochen.

Auch der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel (SPD), sagt, dass es auf den Bildern der Silvesterkrawalle oft um junge Männer mit Migrationsgeschichte geht. Doch für ihn ist das nicht der Punkt. "Denn man muss sich vor Augen führen, dass auch die Betroffenen dieser Gewalt Menschen aus dem Quartier sind, also auch oft Menschen mit Migrationshintergrund", so Hikel.

Jing Hua Wang etwa lebt seit fast 30 Jahren in Neukölln. Als ehemaliger Restaurantbesitzer kennt der 60-Jährige die Gegend gut. "Was sollen denn unsere Kinder denken, wenn sie hier vorbeilaufen?", sagt er an dem ausgebrannten Bus in der Sonnenallee. "Das wirft auf unsere Stadt kein gutes Licht." Im Viertel habe der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund stark zugenommen. Für Wang ist das ein möglicher Grund für die vermehrten Krawalle in Neukölln.

An vielen Stellen funktioniere Integration, sagt Bürgermeister Hikel und verweist auf Bildung, Quartiersmanagement, Nachbarschaftshilfen oder Kiezfeste. Aber einzelne Personen erreiche man einfach nicht. "Die behaupten, dass eigene hier Regeln gelten, dass der Kiez ihnen gehört", so Hilke. "Das sind oft Jugendliche, die in der Schule nicht gerade Erfolgserlebnisse hatten und die dann ohne Perspektive dastehen." Die Corona-Pandemie könnte dies noch verstärkt haben, als Schulen und Jugendeinrichtungen geschlossen waren.

Klar ist für Hikel aber auch: Wo Kriminalität und Gewalt herrschen, muss der Staat durchgreifen. "Das Erste ist, klarzumachen, dass der öffentliche Raum sicher ist." Das sei der Staat den Bewohnern und Geschäftsleuten schuldig. "Da müssen Gerichte sehr konsequent und sehr schnell Urteile herbeiführen."

Auch dazu liegen ad hoc keine Daten vor. Die Zahl der Verfahren zu Angriffen auf Polizei und Feuerwehr könne kurzfristig nicht erhoben werden, erklärt Justizsprecher Sebastian Büchner, erst recht nicht zu Verfahren speziell um Böller. Er verspricht aber für die nächsten Tage eine Auswertung zu Anzeigen nach Angriffen auf Einsatzkräfte in früheren Jahren.

Pfalzgraf findet die Strafverfolgung oft zu milde. "Solche Leute müssen konsequent bestraft werden, und die Strafe muss auf dem Fuße folgen, nicht erst ein halbes Jahr später", sagt er. "Die müssen einen Richter sehen." Die 103 ursprünglich festgenommen sind nach Feststellung ihrer Identität wieder frei.

Daneben plädiert Pfalzgraf für bessere Prävention in Brennpunkten – etwa mit Vereinen oder Moscheen oder auch mit den Familien. Die Gewalt rund um den 1. Mai habe die Berliner Polizei mit immer wieder verbesserten Konzepten und Vorbeugung in den Griff bekommen. "Ich glaube, dass wir das auch über die Silvesterfeiertage hinbekommen können".