Von Benjamin Auber und Matthias Kehl
Heidelberg. Sven Giegold (49) ist gemeinsam mit Ska Keller der Spitzenkandidat der deutschen Grünen für die Europawahl.
Herr Giegold, wie kann es gelingen, dass sich mehr Menschen für die Europawahl interessieren? Mehr Kompetenzen für das EU-Parlament?
Am Parlament liegt das nicht. Wir sind bereits jetzt in der Lage die politische Arbeit der Europäischen Kommission zu beeinflussen.
So richtig sichtbar ist das aber nicht.
Einspruch. Es wird ja immer darauf herumgeritten, dass das EU-Parlament kein formelles Recht hätte, Gesetze vorzuschlagen. Doch de facto gibt es das längst. Wenn eine Parlamentsmehrheit etwas will, bekommen wir auch informell so viel Druck auf die Brüsseler Institutionen hin, dass sich Dinge in Bewegung setzen. Das haben wir Grüne beim Whistleblower-Schutz oder beim Recht auf ein Bankkonto geschafft. Warum sitzen in Brüssel denn so viele Lobbyisten? Bestimmt nicht, weil wir so wenig zu sagen haben. Das Europa-Parlament, das in zwei Wochen wieder zu Wahl steht, ist ein starkes Parlament.
Und wenn am Ende nicht derjenige Kommissionspräsident wird, der eigentlich vom Volk gewählt ist?
Das wäre fatal. Nur wenn wir als pro-europäische Parteien das Prinzip verteidigen, dass es eine oder einer der Spitzenkandidaten aus dem Wahlkampf ist, der an die Spitze der Europäischen Kommission kommt, behalten wir als Parlament die Stärke, die wir uns in den letzten fünf Jahren erstritten haben. Alles andere wäre ein demokratischer Rückschritt. Ich finde es äußerst problematisch, dass die Union in den Fluren schon über einen anderen Kandidaten als Manfred Weber tuschelt und Angela Merkel sich nicht eindeutig zum Spitzenkandidaten-Modell bekennt.
Ist das Prinzip der Einstimmigkeit eines der größten Hindernisse für die Modernisierung Europas?
Einstimmigkeit wird oft als Ausrede vorgeschoben, wenn die Große Koalition aus Berlin in Brüssel politisch nicht handeln will. Eine Digitalsteuer für Amazon und Co. könnte Deutschland und Frankreich in auch gemeinsam in verstärkter Zusammenarbeit einführen - selbst wenn vier kleine Länder dagegen sind. Dass hier nichts passiert, liegt einzig und allein an der Feigheit der Bundesregierung, die vor Donald Trump kuscht, weil auch große amerikanische Unternehmen betroffen sind.
Sie wollen die Demokratie und Menschenrechte in den EU-Mitgliedstaaten überprüfen. Wie wollen Sie das anstellen?
Im Parlament sind wir uns einig, dass wir eine unabhängige Kommission einsetzen müssen, die die Situation in den Mitgliedstaaten untersucht, wenn dort beispielsweise die Medienfreiheit oder Unabhängigkeit der Gerichte unter Druck kommen. Schlimmstenfalls muss es dann Konsequenzen bei europäischen Fördergeldern geben. Wir wollen das aber so machen, dass nicht ein Land als Ganzes bestraft wird und darunter dann auch die pro-europäischen Kräfte leiden. Stattdessen sollen gezielt den Regierungen, die die Rechte verletzten, die Kontrolle über die Gelder entzogen werden. Städte und Kommunen, Kultureinrichtungen und Bürgerinitiativen im Land sollen dann direkt europäische Fördergelder in Brüssel beantragen können.
Ungarn versorgt die wenigen Flüchtlinge, die vor Ort sind, nur unzureichend mit Lebensmitteln. Was geben wir für ein Bild als Europäer ab?
Bei der Verteidigung der Menschenrechte haben wir auch in Europa noch Aufholbedarf. Es besteht ein großer Unterschied darin, was wir sonntags predigen und werktags tun. Wir lassen zu, dass ein Autokrat in Ungarn schaltet und waltet wie er will. Das macht Europa kaputt. Dem Populismus und Abbau der Demokratie müssen wir als Pro-Europäer einen Riegel vorschieben und dazu gehören dann auch Sanktionen.
Aber lassen sich durch Sanktionen antieuropäische Haltungen verändern?
Politisches Handeln kann Einstellungen sehr wohl verändern. In Deutschland ist es noch nicht so allzu lange her, dass Homosexualität unter Strafe stand. Natürlich prägte das damals auch die Gesellschaft und bestimmte den Umgang miteinander. Wenn Länder jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang waren, dann braucht der Wandel Zeit. Diese Gesellschaften haben eine tiefe soziale Spaltung hinter sich und deswegen ist es wichtig, dass wir die Akteure, die dort für Demokratie und eine freie Gesellschaft stehen auch politisch unterstützen.
Jeden Freitag gehen Tausende Schüler für Klimaschutz auf die Straße. Hätte der junge Sven Giegold dafür auch den Unterricht sausen lassen?
Wir hatten damals sogar noch Samstagsunterricht. Wenn ich ehrlich bin, war ich häufig nicht da, weil ich in der BUND-Jugend aktiv war. Dort habe ich wesentlich mehr gelernt als in der Schule. Die Schüler, die die Fridays-for-Future-Proteste organisieren, übernehmen in unserem Land gesellschaftliche Verantwortung. Sie erinnern die Bundesregierung jede Woche daran, den Kampf gegen die Klimakrise endlich in die Tat umzusetzen. Darauf sollten wir stolz sein.
Initiatorin Greta Thunberg appelliert an die Menschen, komplett auf das Fliegen zu verzichten. Gehen Sie mit?
Ich bewundere die Radikalität von Greta Thunberg. Ich muss als Europa-Abgeordneter und Vater aber oft abwägen: Verbringe ich mehr Zeit mit meinen Kindern oder mit der Politik. Beides bedeutet, hin und her zu Reisen. Und da gibt es immer wieder Situationen in denen ich mich für die Familie und einen schlechteren ökologischen Fußabdruck entscheide. Aber wir müssen Anreize setzen, dass die steuerliche Bevorteilung beim Flugbenzin endlich aufhört und der klimafreundliche Verkehr gestärkt wird. Deshalb brauchen wir beispielsweise Maßnahmen wie eine CO2-Bepreisung.
Wie müssten diese Steuersätze angesetzt werden, um eine Lenkungswirkung zu erzielen?
Ab einem Preis von 40 Euro pro Tonne CO2 hat die Wirtschaft die richtigen Anreize, auf mehr Klimaschutz umzusteigen. Davon profitieren letztlich alle. Die Einnahmen, die sich am Verbrauch orientieren, kommen alle in einen Topf und werden dann in gleichen Anteilen an alle Bürgerinnen und Bürger zurückgezahlt. Damit haben kleine und mittlere Einkommen am Ende sogar mehr in der Tasche. Das macht den CO2 Preis sozial gerecht.
Schwächt sich Deutschland wirtschaftlich gesehen nicht selbst, wenn es bei einer C02-Steuer in Europa den Vorreiter spielt?
Deutschland hatte beim klassischen Umweltschutz einst strengere Regeln als alle anderen. In den letzten Jahren war unserer Regierung in Brüssel allerdings vielmehr Bremser in Sachen klimafreundlicherer Politik. Wenn das so weitergeht, werden die neuen, sauberen Technologien immer häufiger in China und nicht in Europa produziert. Wir wären naiv, wenn wir diese Veränderungen einfach aussitzen wollten. Natürlich gibt es einige Unternehmen, die den Änderungsdruck von sich wehren, um mit alten Technologien noch ein paar Jahre Gewinne zu machen. Aber je mehr wir uns vom Fortschritt abschirmen, desto mehr manövrieren wir uns ins Abseits. Das kann keine verantwortungsbewusste Wirtschaftspolitik sein.
Stand jetzt geht in puncto Verkehrspolitik die Nutzung von klimafreundlicheren Technologien mit erheblichen Einschränkungen einher. Was gilt es konkret zu verbessern?
Wenn sie auf das Thema Elektro-Auto anspielen: Da gibt es natürlich noch einiges zu tun. Vor allem müssen wir die Lade-Infrastruktur voranbringen. Mal sind die Ladesäulen abends nicht erreichbar, mal funktionieren sie nicht, mal parken Autos auf den vorgesehenen E-Auto-Parkplätzen, die da nichts zu suchen haben. Aber das ist alles zu lösen, wenn die Bundesregierung das Thema Verkehrswende endlich mal ernst nehmen würde. Dann würden Zukunftsautos Made in Germany auch konkurrenzfähig.
Hand aufs Herz: Bereuen Sie nicht manchmal, dass Sie aus ökologischer Überzeugung heraus nie den Führerschein gemacht haben?
Die Situationen gibt es durchaus. Insbesondere dann, wenn unsere Kinder mal schnell irgendwo hingebracht werden müssen und ich das nicht übernehmen kann. Ich glaube ich würde diese Entscheidung heute anders treffen. Aber das Waldsterben hat mich als junger Mensch so sehr politisiert, dass der Führerschein damals für mich nicht in Frage kam.
Für Ihre Wahlkampf-Tour-Route werden sie in einem Elektro-Auto gefahren. Wie läuft die Fortbewegung bei Familie Giegold privat?
Wir hatten lange einen kleinen E-Wagen von "Twike"- das war echt super cool. Aber mit zwei Kindern haben wir das Modell dann aufgegeben. Zurzeit haben wir einen kleinen Benziner. Sobald wir demnächst umgezogen sind, wird der durch ein Elektro-Auto ersetzt, betankt mit eigenem Solarstrom. Ich behaupte gar nicht, dass wir perfekt sind. Mich als Heiliger darzustellen, finde ich auch eher peinlich.
Die Lebensverhältnisse in Europa anzupassen, könnte helfen die EU zusammenzuführen. Ist ein europäischer Mindestlohn ein geeignetes Mittel?
Würden wir in Europa durchbekommen, dass es in jedem Land einen Mindestlohn gibt, dann wäre beim Lohndumping einiges geschafft. Das würde allen etwas bringen. Deswegen schlagen wir vor, dass der Mindestlohn bei mindestens 60 Prozent des mittleren Einkommens des jeweiligen Landes liegen soll. Dann ist er in Deutschland nicht zu niedrig und in Bulgarien nicht zu hoch.
In Bulgarien liegt der Mindestlohn bei 1,42 Euro. Warum sollten Menschen dann dort bleiben?
Um die wirtschaftliche Entwicklung in allen Teilen Europas zu stärken, brauchen wir gemeinsame Investitionsprogramme. Zum Binnenmarkt gehört die Arbeitnehmerfreizügigkeit aber auch dazu. Menschen aus ärmeren Regionen müssen woanders arbeiten dürfen. Gezahlt werden muss dann aber der Lohn vor Ort, damit Dumpinglöhne verhindert werden. Trotzdem müssen wir beim sozialen Europa noch einiges tun. Von den Sonntagseuropäern, die nur darüber reden, gibt es leider viel zu viele.
Wenn aber zu viele Menschen nach Mitteleuropa kommen, werden dann die Mitgliedsländer nicht geschwächt?
Gab es in Baden-Württemberg jemals eine Diskussion darüber, dass Fachkräfte aus dem Ruhrgebiet in den Südwesten abwandern? Natürlich ist es ein Problem, wenn Ärzte in der Slowakei fehlen. Dann sind aber auch die Länder, die den Europäischen Sozialfonds nutzen, gefragt, diese Menschen anständig zu bezahlen und die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Wie beurteilen Sie die Strafe für den Lifeline-Kapitän, Claus-Peter Reisch, der auf Malta zu einer Geldstrafe von 10.000 Euro verurteilt worden ist?
Die Lifeline und Kapitän Reisch wurden dafür verurteilt, dass sie Menschen vor dem Ertrinken retten. Das ist eine Schande für die ganze EU und ein Armutszeugnis für Europas Regierungen. Ein Zehntel dieser Strafe habe ich nun selbst gespendet und hoffe, dass es viele andere genauso tun. Für die sogenannte libyschen Küstenwache, die selbst für mehr und mehr Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, muss Europa jede finanzielle Unterstützung sofort einstellen.
Mit welcher Haltung sollte die EU dem Problem des täglichen Flüchtlingssterbens auf dem Mittelmeer begegnen?
Europa muss endlich sichere Fluchtwege schaffen und die europäische Seenotrettung wieder aufnehmen, damit nicht weiterhin täglich Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer sterben. Ich fordere die Bundesregierung und die europäischen Regierungen eindringlich dazu auf, sich für die unverzügliche Freilassung aller internierten Schutzsuchenden in Libyen einzusetzen und die zügige Evakuierung nach Niger sowie die Aufnahme durch das Resettlementprogramm der Vereinten Nationen zu unterstützen.