"Demonstrationen sind der gefährlichste Ort für Journalistinnen und Journalisten in Deutschland", sagt der Leiter des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), Lutz Kinkel. Der kleinere Teil der Vorkommnisse, nämlich grob ein Viertel, gehe auf die Polizei zurück. Am häufigsten würden Journalisten im Demonstrationsgeschehen von Privatpersonen angegangen. Kinkels Non-Profit-Organisation beobachtet Verstöße gegen die Pressefreiheit.
Fotografen und Kamerateams sind nach Angaben des Deutschen Journalisten-Verbands bei Demonstrationen besonders gefährdet, weil sie leicht als Journalisten erkennbar sind. Umfassende staatliche Zahlen dazu gibt es zwar nicht, Hinweise liefert aber die Statistik zur politisch motivierten Kriminalität. Darin werden seit 2016 Angriffe auf Medien gesondert ausgewiesen. Erfasst werden damit allerdings Angriffe nicht nur auf Menschen, sondern etwa auch auf Redaktionsgebäude. Der Blick in die Zahlen zeigt: Der Großteil politisch motivierter Übergriffe auf Journalisten kommt von rechts.
Statistische Erhebungen zu Gewalt von Polizeibeamten gegen Journalisten hat das Bundesinnenministerium dagegen nicht. "Es kommt in der Regel zu Konflikten, wenn wir als Polizei eine Lage zu bewältigen haben", erklärt der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek. Bei Demonstrationen gebe es Beamte, die die Menge überblicken und dabei Teilnehmer auszumachen versuchen, die andere zur Gewalt anstiften. Dann werde ein Trupp von fünf bis acht Polizisten losgeschickt, um diese "Rädelsführer" herauszuholen. "In solchen Momenten sind Einsatzkräfte konzentriert auf den Zugriff und drängeln sich durch die Menge", sagt Radek. "Wenn die reingehen, dann nicht, um das Kamerateam anzurempeln."
In "hochdynamischen Situationen" steige in großen Lagen der Druck, erläutert Stefan Jarolimek, der an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster lehrt. "Die Beamten müssen alles Mögliche im Blick haben, da entsteht schnell das Gefühl "Da brauche ich hier nicht auch noch die Presse"", konstatiert der Medienwissenschaftler. "Vorgesetzte oder Ausbilder müssen den Einsatzkräften erklären: "Journalisten haben eine wichtige Funktion, die dürft ihr nicht einfach zur Seite schieben."" Kinkel vom Pressefreiheits-Zentrum sagt, es sei schon vorgekommen, dass einem Journalisten von der Polizei gesagt wurde: "Das müssen Sie nicht dokumentieren, das machen wir bereits."
Großlagen und große Demos an sich sind aus Sicht von Reporter ohne Grenzen (RSF) nicht der Grund, warum es zwischen Polizei und Journalisten zu Konfrontationen kommt. "Großlagen gab es schon immer", sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. Neu sei, dass in den vergangenen Jahren eine medienfeindliche Rhetorik unter Demonstrierenden zugenommen habe. Journalisten seien selbst zum Ziel auf Demos geworden. Bewegungen wie "Querdenken" haben klassische Medien im Verdacht, selbst als Instrumente der Staatsmacht zu agieren.
Bei solchen zunehmenden Protesten mit gewaltgeladener Stimmung gerät die Polizei in Stresssituationen, wie der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), Frank Überall, erklärt. "Es fehlt Zeit, und dann kann es zu Irritationen und Fehlentscheidungen kommen."
Dass sich Polizisten in solchen Situationen nicht immer korrekt verhalten, streitet Polizisten-Gewerkschafter Radek nicht ab. Beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg seien seine Kollegen teils 20 bis 25 Stunden am Stück im Dienst gewesen. "Diese Einsatzbelastung entschuldigt keine Übergriffe gegen Journalisten, aber sie ist eine Erklärung."
Dass es bei Pegida und nun "Querdenken" verstärkt Übergriffe von Teilnehmern auf Berichterstatter gibt, bestätigt auch Radek. "Journalisten erwarten in solchen Situationen von der Polizei Schutz. Natürlich ist das unsere Aufgabe - aber dafür brauchen wir auch die nötigen Ressourcen." Nach der außer Kontrolle geratenen "Querdenker"-Demonstration in Leipzig, bei der auch Journalisten bedrängt und bedroht wurden, zog die Polizei Sachsen Konsequenzen: "Aufgrund der Angriffe auf Medienvertreter bei #le0711 wurde durch die Polizeidirektion #Leipzig eine polizeiliche Schutzkomponente initialisiert", twitterte die Polizei. Journalisten könnten sich bei Interesse melden.
Es kommt auch vor, dass Demonstranten versuchen, die Polizei für ihre eigenen Zwecke und gegen Journalisten einzuspannen. Hohe Wellen schlug im Sommer 2018 ein Vorfall in Sachsen. Ein Mann mit Deutschlandhut auf dem Kopf hatte sich auf einer Pegida-Demo lautstark gegen Filmaufnahmen gewehrt. Daraufhin kontrollierte die Polizei das ZDF-Team. Erst nach einer Dreiviertelstunde konnte es wieder seiner Arbeit nachgehen.
Mihr von Reporter ohne Grenzen erläutert: Wenn Demonstrierende zur Polizei gingen und mit selbstbewusstem Verweis auf den Datenschutz verlangten, dass die Polizei Bild- und Videoaufnahmen unterbinden solle, dann könne das zu Fehlverhalten von Beamten führen. Medienwissenschaftler Jarolimek stellt fest: "Da stehen junge Bereitschaftspolizisten auf der Straße, denen die Einzelheiten und Details des Medienrechts nicht immer bewusst sind."
Das Gesetz stellt indessen klare Regeln auf, was das Recht am eigenen Bild betrifft. Bildnisse dürfen zwar nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden. Es gibt aber Ausnahmen - darunter "Bilder von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an denen die dargestellten Personen teilgenommen haben", wie es im "Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie" heißt.
Interessant ist da ein Blick nach Frankreich. Ein Gesetzesentwurf, der die Verbreitung von Videos oder Bildern von Polizisten im Einsatz einschränken soll, hat eine große Protestwelle im Land ausgelöst. Medien fürchten Einschränkungen der Presse- und Informationsfreiheit. Der umstrittene Artikel 24 sieht vor, dass die Veröffentlichung der Bilder dann strafbar ist, wenn es die böse Absicht gebe, den Beamten damit physisch oder psychisch zu schaden. Eine Formulierung, die viel Interpretationsspielraum lässt.
Reporter ohne Grenzen sieht in mehr polizeilicher Weiterbildung einen Ausweg für die Situation in Deutschland: "Offenbar fehlt oft ein Gespür, was die genauen Aufgaben von Journalisten sind", betont Mihr. Auch Jarolimek würde sich das wünschen: "Die Rechte und die Funktion von Medien kommen nach meinem Eindruck in der Polizeiausbildung zu wenig vor. Die Curricula sind allerdings auch schon furchtbar voll. Ausbildung oder Fortbildung zu dem Thema ist aber wichtig." Curricula sind Lehrpläne.
Doch häufig genug stehen Polizisten Menschen gegenüber, die zwar mit Handy über Facebook, Twitter oder Youtube selbst berichten, aber gar keine Journalisten im klassischen Sinne sind. Die Berufsbezeichnung ist in Deutschland nicht geschützt. Gleichzeitig haben Journalisten Privilegien wie etwa den Zugang zu manchen gesperrten Bereichen. Das Grundgesetz garantiert die Pressefreiheit. Laut DJV kommen immer mehr Leute auf Demos, die sich als Journalisten ausgeben - mit selbstgebastelten Ausweisen oder Plagiaten.
"Momentan filmen alle", sagt Jarolimek. "Deshalb ist der Presseausweis so wichtig." Doch genau hier sehen Medien-Gewerkschafter ein weiteres Manko bei der Polizei. Zum Presseausweis sagt der DJV-Vorsitzende Überall: "Dessen Rolle scheint manchen nicht bewusst zu sein. Da scheint es Fehlstellungen in der Ausbildung zu geben." Auch die Landesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) bei Verdi Berlin-Brandenburg, Renate Gensch, sagt: "Ich verstehe nicht, warum die Polizei den angeblich nicht kennt." Es gebe klare Regeln zum Presseausweis. "Wir erwarten, dass das umgesetzt wird."
Die Vereinbarung zum bundeseinheitlichen Presseausweis wurde 2016 zwischen dem Presserat als Vertreter der deutschen Medien und der Innenministerkonferenz getroffen. Den jeweils für ein Jahr gültigen Ausweis, den sechs Verbände ausstellen, erhalten nur hauptberufliche Journalisten. Das soll einen verlässlichen Nachweis gegenüber staatlichen Stellen ermöglichen. Der Ausweis trägt das Logo des Presserates und die Unterschrift des Vorsitzenden der Innenministerkonferenz.
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte habe sich die Beziehung zwischen Polizei und Medien gebessert, meint derweil der Kriminologe Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg. "In den 1960er und 1970er Jahren war das Verhältnis von Polizei und Medien feindseliger." Journalisten seien als Berufsstand betrachtet worden, der der Arbeit der Polizei kritisch gegenübersteht. Das habe sich geändert: "Seither hat man gelernt, miteinander umzugehen. Davon haben beide Seiten profitiert", sagt er. Auch der Deutsche Journalisten-Verband sieht das Verhältnis zwischen Polizei und Journalisten im Großen und Ganzen nicht als problembehaftet.
Dass die Polizei selbst häufig Gegenstand von Berichterstattung ist, entspannt das Verhältnis allerdings nicht gerade. "Es gibt seit Jahren eine Tendenz zur Skandalisierung, die auch die Polizei trifft", sagt Jarolimek. "Darüber ärgert sich mancher Polizist - und das kann das Verhältnis zu Medien belasten. Da muss man Verständnis wecken für die Lage der Medien, auch für den Kosten- und Konkurrenzdruck in der Branche." Er sieht aber auch die Presse in der Pflicht, die ihre wichtige Funktion nicht nutzen solle, um die Bevölkerung anzuheizen.
Der Deutsche Journalisten-Verband wirbt für Verbesserungen auf beiden Seiten. Schulungen seien nötig, aber die Polizei solle auch schon bei Lagebesprechungen vor größeren Einsätzen die Anwesenheit von Journalisten einkalkulieren. Journalisten fordert der DJV-Vorsitzende Überall auf, alles dafür zu tun, um einen Draht zur Polizei und mögliche Unterstützung der Beamten auf zunehmend gefährlichen Demos sicherzustellen. Darüber hinaus empfiehlt der Gewerkschafter Journalisten Vorkehrungen zum Eigenschutz, etwa mit Helmen und Sicherheitsteams.
Unter der Federführung des Deutschen Presserats wollen Verbände das ganze Problem auf die Tagesordnung der Innenministerkonferenz im Dezember bringen. Das Gremium legt dazu einen Vorschlag vor, wie die 1993 vereinbarten "Verhaltensgrundsätze für Presse/Rundfunk und Polizei zur Vermeidung von Behinderungen bei der Durchführung polizeilicher Aufgaben und der freien Ausübung der Berichterstattung" auf den heutigen Stand gebracht werden könnten.
"Es ist höchste Zeit, dass Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen und Großveranstaltungen besser geschützt werden und ungehindert arbeiten können", sagt der Sprecher des Deutschen Presserats, Sascha Borowski.