RNZ-Corona-Podcast - Folge 89

Die Politik darf sich "nicht hinter dem Verfassungsrecht verstecken"

Rechtsprofessor Franz Mayer spricht sich klar für eine allgemeine Impfpflicht aus, da das Allgemeinwohl Priorität habe und Stichprobenkontrollen ausreichten.

28.01.2022 UPDATE: 09.02.2022 16:45 Uhr 3 Minuten, 33 Sekunden
Repro: RNZ

Von Benjamin Auber

Heidelberg/Bielefeld. Prof. Franz Mayer (53) lehrt an der Universität Bielefeld Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik.

Hintergrund
[+] Lesen Sie mehr[-] Weniger anzeigen

Herr Mayer, wieso wäre eine allgemeine Impfpflicht aus juristischer Sicht geboten?

Es ist aus rechtlicher Sicht weniger die Frage eines "geboten" als die nach der rechtlichen Zulässigkeit der Impfpflicht. Der Ausgangspunkt ist dabei die fachwissenschaftliche Begründung, die besagt, dass unser Immunisierungsgrad nicht ausreicht, um vor einer möglichen nächsten Welle ausreichend geschützt zu sein. Weil letzte medizinische Gewissheiten nicht bestehen, gibt das Verfassungsrecht der Politik einen großen Spielraum.

Was bedeutet das?

Auch interessant
RNZ-Corona-Podcast: Die Lehren aus zwei Jahren Corona-Pandemie und ein Ausblick auf den Herbst (Folge 101)

Politik muss Verantwortung für die Entscheidungen übernehmen und kann sich nicht hinter dem Verfassungsrecht verstecken. Verfassungsrechtlich zulässig heißt noch nicht, dass eine Maßnahme mehrheitlich als sinnvoll angesehen wird. Das ist eine politische Frage. Ich bin dazu der Auffassung, dass die allgemeine Impfpflicht geboten ist, weil mich die medizinischen Argumente überzeugen und ich die meisten Gegenargumente für vorgeschoben halte.

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, zweifelt bei der Impfpflicht an den "Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit".

Sein Kernargument lautet, dass wir zu wenig wissen, um derart weitreichende Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen. Diesen Schluss ziehe ich nicht, weil das Nichtstun auch gravierende Folgen hätte.

Wenn Sie eine Verfassungsklage gegen die Impfpflicht führen müssten. Was könnten weitere Einwände sein?

Es müsste klar sein, dass es nur um eine Impfpflicht geht, keinen Impfzwang, bei dem gewaltsam geimpft würde. Es muss natürlich Härtefall- und Ausnahmeregeln geben. Und es muss eine ausführliche Begründung der Zielsetzungen und Abwägungen des Gesetzgebers erfolgen. Gerichte würden sehr genau schauen, ob die Abgeordneten eine informierte Entscheidung getroffen haben. Wenn das alles beachtet wird, sollte eine allgemeine Impfpflicht vor den Gerichten standhalten.

Verstößt eine Impfpflicht nicht gegen die körperliche Unversehrtheit?

Artikel 2 des Grundgesetzes erlaubt einen Eingriff in diese Unversehrtheit, wenn der Staat gute Allgemeinwohlgründe hat. Der Schutz von Leben und Gesundheit vieler gegen die geringfügige körperliche Beeinträchtigung durch Impfung ist ein solcher guter Grund.

Varianten und die Wirkung von Impfstoffen können sich unterscheiden. Kann eine Impfpflicht auf Vorrat beschlossen werden?

Rechtlich konstruieren kann man das. Das Infektionsschutzgesetz enthält heute schon eine Ermächtigung, eine Impfpflicht kurzfristig per Verordnung einzuführen. Epidemiologisch gesehen erscheint es mir aber wenig sinnvoll, weiter zuzuwarten, denn kurzfristig können wir die Grundimmunität bei Auftauchen neuer Varianten nicht im geeigneten Maße steigern. Es ist doch viel sinnvoller, die Impfpflicht jetzt einzuführen. Und wenn sich die Dinge unglaublich positiv entwickeln, kann man überlegen, sie dann wieder auszusetzen.

Hätten Sie Bedenken gegen ein bundesweites Impfregister?

In der Fachdiskussion wird das wohl seit Langem gefordert und erscheint sinnvoll, wir wären in der Pandemiebekämpfung weiter, wenn es eine solche Datei gäbe. Datenschutzbedenken erscheinen entkräftbar. Aber ein Register ist nicht zwingend erforderlich, um eine Impfpflicht durchzusetzen, wie wir in Italien für die Impfpflicht ab 50 sehen. Wir haben andere Effektivitätsmechanismen, über die Einwohnermeldeämter, die Krankenkassendaten oder über verstärkte Stichprobenkontrollen, um einen hohen Normbefolgungsdruck aufzubauen.

Würden denn Stichprobenkontrollen überhaupt ausreichen?

Mit Stichprobenkontrollen bekommen wir nie eine 100-prozentige Normbefolgung hin, das sieht man auch bei der Gurtpflicht in Fahrzeugen. Aber auch etwas weniger als das würde reichen, um die Grundimmunität in Deutschland in der Breite deutlich zu verbessern.

Aber eine mögliche Zwangshaft würde zu weit führen, weil ...

Auch bei Sanktionen würde man die verfassungsrechtliche Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellen. Pflicht ohne Haft reicht aus. Anders wäre das vielleicht bei einem hochaggressiven, für alle tödlichen Ebola-Virus, dass das Überleben der Menschheit infrage stellen würde, da könnte man vielleicht Zwangshaft rechtfertigen. An diesem Punkt sind wir aber definitiv nicht.

Die Politik setzt für die Impfpflicht auf Gruppenanträge im Bundestag. Ein geeigneter Prozess für die Thematik?

Es ist richtig, dass das demokratisch unmittelbar legitimierte Parlament diese Fragen entscheidet. Ob das eine gute Idee war, auch das Handwerkliche, das Entwerfen des Textes komplett ins Parlament zu geben, ohne wie sonst die Sachkunde der Ministerialbürokratie zu nutzen, wage, ich zu bezweifeln. Gewissensentscheidung statt Fraktionsanträge leuchtet mir nicht recht ein, da gibt es vielleicht auch ein Demokratieproblem: Ich kann nun gar nicht mehr erkennen, welche Partei ich abwählen müsste, wenn mir die Mehrheitsentscheidung nicht passt. Das hat Züge einer Flucht aus der demokratischen Verantwortung.

Würde die einrichtungsbezogene Impfpflicht ab 15. März vor den Gerichten Bestand haben?

In der Konstruktion der einrichtungsbezogenen Impfpflicht scheint es, bei einigen Dingen zu haken. Prognosen zu Urteilen abzugeben, ist immer schwierig. Auf eine allgemeine Impfpflicht müssen wir uns konzentrieren.

Ist es juristisch sattelfest, wenn Ungeimpfte von ihrer Arbeit ausgeschlossen werden können?

Da kommt es sicher auf den Arbeitssektor ab, schon weil beispielsweise im Öffentlichen Dienst besondere Verpflichtungen bestehen. Ich halte es aber für gut vorstellbar, der Impfpflicht auf diesem Wege über die Arbeitgeber schärfere Zähne zu verleihen. Für staatliche Bedienstete wäre das sicher ein gangbarer Weg. Für den privaten Sektor müssen wir das gut begründen.

Hat sich Ihre Meinung, wie die der Politik, im Laufe der Zeit verändert?

Bei den rechtlichen Rahmenparametern hat sich aus meiner Sicht in den letzten zwei Jahren wenig getan. Mein Zutrauen in die Vernunft der Mitbürger hat allerdings stark gelitten. In Bezug auf das Impfen, und das muss ich so klar sagen, habe ich nicht mit so viel Irrationalität und Dummheit gerechnet. Derartige Wissenschaftsskepsis, Selbstgefährdung, extreme Ichbezogenheit, Mangel an gesellschaftlicher Solidarität und politisch instrumentalisierte Gewalt lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Demokratie braucht Demokraten, und die sind zum Glück noch immer die übergroße Mehrheit. Und solange die Grundrechte gewahrt sind, kann die Mehrheit vorgeben, wo es lang geht.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.