Georg Stein blickt mit "großer Frustration" auf den Gaza-Krieg
Stein gründete und leitet das Nahost-Archiv in Heidelberg. Das Thema beschäftigt ihn seit Jahrzehnten.

Von Michael Abschlag
Heidelberg. Georg Stein sitzt in seinem Büro, im dritten Stock eines Altbaus in der Heidelberger Hauptstraße. Das Büro sieht aus, wie man sich ein Archiv vorstellt: Überbordende Regale, Tische mit Büchern, Zetteln, Karteikarten. Durch die Fenster sieht man auf die Dächer der Altstadt. Stein – wallendes Haar, weißer Bart – sitzt in seinem Sessel. Als er ins Erzählen kommt, leuchten seine Augen: Der Nahe Osten ist seine Leidenschaft.
Entdeckt hat er sie vor einem halben Jahrhundert. "Ich war 1973 als junger Schüler mit meiner Gymnasialklasse aus dem Odenwald das erste Mal in Israel, für mich damals noch das ,Heilige Land’. Von Palästina hatte ich zu der Zeit noch keine Ahnung. Mit dem Konflikt kam ich erst später in Berührung, nämlich durch einen längeren Aufenthalt in Bethlehem."
Es folgte eine Magisterarbeit über die PLO, zahlreiche Besuche in der Region, journalistische Arbeiten auch für die RNZ – in der Weihnachtsausgabe 1984 etwa erscheint ein von ihm geführtes Interview mit Jassir Arafat. "Bei mir ist schnell der Wunsch gereift, diese komplexe Region in Form von Büchern den Lesern transparenter zu machen", so Stein.
1989 gründet er den Palmyra-Verlag, der seither Bücher herausbringt zu Israel, Palästina und dem Nahostkonflikt, zur arabisch-muslimischen Welt und – etwas überraschend – zu Rockmusik. Angeschlossen ist das Nahostarchiv Heidelberg, das wohl größte seiner Art in Deutschland. Stolz listet Stein das Angebot des Archivs auf: 3500 Bücher und 600 Broschüren finden sich hier, dazu Tausende Stunden Filmmaterial, Zeitungen, Zeitschriften, Fotos. Das Archiv hilft auch bei Recherchen, vermittelt Experten, etwa für Fernsehsendungen. "Das Thema ist mein Leben", sagt Stein.
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Derzeit gilt das wohl noch stärker als zuvor. Vom Überfall der Hamas erfuhr er im Urlaub, seitdem beschäftigt er sich fast pausenlos mit dem Thema. Es sind derzeit fast zehn bis zwölf Stunden am Tag, an denen ich mich damit beschäftige, Fernsehsendungen anschaue, viel im Internet recherchiere und täglich vier Tageszeitungen lese", erzählt Stein. "Im Moment belastet mich das auch und ich empfinde eine sehr große Frustration."
Stein hat eine klare Haltung zu dem Konflikt. Er verurteilt den Überfall der Hamas, übt aber auch scharfe Kritik an Israel. "Es gibt seit Kriegsbeginn mittlerweile über 16.000 Tote", sagt er. "Auch über 60 Journalisten sind bereits umgekommen, mehr als in zwei Jahren Ukrainekrieg und in Afghanistan zusammen. Ausländische Medienvertreter kommen seit Jahren kaum noch nach Gaza." Er selbst war erst vor wenigen Monaten in Gaza, er nennt das Gebiet ein "Freiluftgefängnis". "Ich habe eine Familie in Gaza besucht, der Mann ist Dozent an einer Universität", erzählt er bewegt. "Ihr Haus ist zerbombt und sie leben jetzt in einem von der Uno zur Verfügung gestellten erbärmlichen Zelt bei Chan Junis."
In Gaza, kritisiert Stein, sei eine "groß angelegte Massenvertreibung" im Gange. "Es gibt in der israelischen Regierung die Absicht, die Menschen aus Gaza zu vertreiben", sagt er (tatsächlich finden sich entsprechende Pläne in einem geleakten Dokument des israelischen Geheimdienstministeriums). "Es geht um immerhin 2,3 Millionen Menschen, denen die Vertreibung droht. Das wäre eine Nakba hoch zwei, viel größer noch als 1948."
Nicht viel besser sei Israels Vorgehen im Westjordanland. "Ich bin öfter im Westjordanland, und wenn man die Verhältnisse dort sieht, die vielen Checkpoints, die permanenten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die vielfältigen Formen der Unterdrückung, die zunehmenden Tötungen durch israelische Siedler – das ist schon sehr erschütternd", so Stein.
Den umstrittenen Begriff eines "Apartheid-Staates" will er sich zwar nicht zu eigen machen, er hänge nicht daran – doch er verweist zugleich auf Studien, die zu dieser Einschätzung kommen.
Ist eine so starke Israel-Kritik angemessen? Wo verläuft die Grenze zum Antisemitismus, und wie schützt man sich vor entsprechenden Vorwürfen? "Ich habe große Wertschätzung für das Judentum als Religion, seine Geschichte und Kultur", stellt Stein klar, sagt aber auch: "Jemand der Israel kritisiert, ist nicht automatisch israelfeindlich oder gar antisemitisch." Die aktuelle Debatte empfindet er als "extrem polarisierend".
Er selbst habe über Jahrzehnte nie Probleme mit Antisemitismus-Vorwürfen gehabt – auch, "weil die Veröffentlichungen des Palmyra Verlags immer seriös waren". Zu einem Wendepunkt kam es erst diesen Mai, als er eine Filmreihe in Heidelberg organisierte; die Hochschule für Jüdische Studien forderte damals eine Absage, in einem Brief wurden Stein "einseitige anti-israelische Positionen" vorgeworfen. Stein weist das von sich, hält überhaupt die "Einteilung in pro-israelisch und pro-palästinensisch" für falsch. Er selbst habe sich stets als beides definiert – "im Interesse beider Völker".
Die Hoffnung auf einen Frieden hat Stein trotz aller Gewalt noch nicht aufgegeben. "So abwegig das heute erscheinen mag: Eine Zwei-Staaten-Lösung ist immer noch möglich", sagt er. "Entscheidend für ihre Umsetzung ist lediglich der politische Wille dazu."