Kritik am EU-Asylkompromiss

"Es wird zu verheerenden Situationen kommen"

Ungleichheit und Klimawandel als Fluchtursachen: Die Migrationsforscherin Sabine Hess kritisiert den Kompromiss scharf. Dieser werde die Probleme nur vergrößern.

20.06.2023 UPDATE: 20.06.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 56 Sekunden
Migranten im nordfranzösischen Gravelines, die weiter nach England wollten: Die Zahl der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, dürfte in Zukunft weiter steigen, sagt Forscherin Sabine Hess. Foto: dpa
Interview
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Sabine Hess
Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Foto: zg

Von Michael Abschlag

Heidelberg. Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Göttingen. Ihre Schwerpunkte sind Migration und Transnationalisierung.

Frau Hess, die EU hat einen Asylkompromiss beschlossen. Wie sehen Sie ihn?

Die Reform des Geas (Gemeinsames Europäisches Asylsystem, Anm.) hat eine katastrophale Wirkung, bezüglich der Außengrenzen und darüber hinaus. Sie beschneidet massiv die Rechte von Geflüchteten und führt zu nationalen Verschärfungen. Vor allem die Grenzschnellverfahren bedeuten – wie es oft jetzt schon passiert – dass Geflüchtete über lange Phasen mehr oder weniger inhaftiert werden, dass sie aufgrund willkürlicher Kriterien wie der sicheren Herkunftsstaaten aus dem Rechtsrahmen fallen und mit verminderten Rechtsgarantien durch das Verfahren geschleust werden. In den griechischen Flüchtlingslagern wird das schon teilweise versucht. Daher wissen wir, dass solche Verfahren eben nicht schnell funktionieren, dass Menschen oft nicht abgeschoben werden können. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass es zu verheerenden Situationen an den Außengrenzen kommt.

Wie sähe denn eine gute Regelung aus?

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Eine gute Regelung heißt, dass sie auf der Basis internationaler und europäischer Rechtsnormen basiert, etwa der Europäischen Menschenrechtscharta oder der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Rechtsnormen garantieren den individuellen Anspruch auf ein Asylverfahren. Diese Garantie wird jetzt massiv ausgehöhlt. Außerdem würde ein gutes Verfahren bedeuten, dass es endlich einen fairen Verteilmechanismus innerhalb der EU gibt. Die jetzige Reform geht das überhaupt nicht an. Alle Probleme, die wir bisher haben, werden deshalb nur verschärft. Welches Interesse haben eigentlich die Staaten an der EU-Außengrenze, diese Geas-Reform umzusetzen? Ihnen wird ja immer noch nicht garantiert, dass ihnen Flüchtlinge abgenommen werden.

Ein europäischer Verteilschlüssel wird aber schwierig mit Ländern wie Polen oder Ungarn. Bräuchte es da nicht eher eine "Koalition der Willigen"?

Realpolitisch ist in der Tat nur eine solche Koalition vorstellbar. Allerdings haben die EU und auch die liberaleren Staaten alles dazu getan, dass die Situation so ist, wie sie ist. Die EU-Kommission hat immer wieder die autoritären Praktiken Griechenlands, Ungarns, Polens und so weiter mit unterstützt und legitimiert. Den Grundrechtsverletzungen an den Grenzen, die jetzt schon Praxis sind, wurde nicht Einhalt geboten.

Müsste man nicht auch die Fluchtursachen stärker bekämpfen? Etwa durch mehr Entwicklungshilfe...

Die erste Maßnahme wäre eine andere Friedens- und Wirtschaftspolitik. Wenn wir uns die europäische Fischereipolitik, den Ressourcenabbau oder die verpassten Chancen bei der Klimagerechtigkeit ansehen, dann produziert die EU viel mehr Fluchtursachen, als sie bekämpft. Die Entwicklungshilfe ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen endlich verstehen, dass wir in einer global vernetzten Welt sind und die meisten Fluchtursachen durch unsere Politik entstehen. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak, Ländern, deren Kriege und Konflikte die Länder der EU mit verursacht haben.

Was sind denn die größten Flucht- und Migrationsursachen?

Ein wichtiger Grund ist die Zerstörung der Lebensgrundlage. Menschen machen sich nicht freiwillig auf die Flucht. Hinzu kommt, dass wir in einer vernetzten Welt leben, dass in manchen Weltgegenden Migration schon immer dazugehört hat. Aber auch, dass die verschärften EU-Einwanderungsbedingungen einen Bumerang-Effekt haben, legale Migration erschweren und illegale Migration fördern.

Das heißt, man müsste alle Regionen der Welt auf einen ähnliches Niveau an Lebensstandard bringen.

Ja, das war ja lange Zeit ein Ziel. Dass wir davon jetzt weit entfernt sind, ist auch das Ergebnis der verheerenden Politik der Industrienationen. Die verpassten Chancen, gerade beim Thema Klimagerechtigkeit, schlagen sich nieder in Flüchtlingszahlen. Und nur ein kleiner Teil der Geflüchteten kommt bei uns in Europa an. Die meisten bleiben in ihrer Region.

Wird sich die Situation mit dem Klimawandel weiter verschärfen?

Der Aufbau der Festung Europa macht ja gerade deutlich, dass sich Europa sehr im Klaren darüber ist, dass sie die Welt um sich herum in eine vernichtende Situation bringt. Die Zahlen werden auch bei uns steigen, wenn auch nicht sofort. Wir sehen ja, dass Menschen versuchen, woanders hinzukommen, wo sie nicht von rassistischer Pogromstimmung wie in Tunesien oder von Wirtschaftskrisen wie in der Türkei oder im Libanon betroffen sind.

Vor kurzem sank im Mittelmeer wieder einmal ein Flüchtlingsboot...

Das ist das direkte Ergebnis der Geas-Reform, dass Mittelmeer-Anrainer versuchen, Anlandungen zu verhindern. Und sie können sicher sein, dass kriminelles Vorgehen für sie keine Konsequenzen hat. Es ist inzwischen klar, dass die Schiffskatastrophe nicht nur hätte verhindert werden können, sondern sogar aktiv durch die griechische Küstenwache herbeigeführt wurde. Dass die EU-Kommission dazu schweigt, ist ein vernichtendes Signal.

Bräuchte es wieder eine europäische Seenotrettung?

Auf jeden Fall! Es bräuchte überhaupt eine andere Empathie. Wir führen gerade einen stillen Krieg gegen die Flucht- und Migrationsbewegungen. Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab geworden. Das ist der eigentliche Skandal.

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