Israels Vorgehen ist "nicht mehr verhältnismäßig"
Die Völkerrechtlerin Emily Crawford im RNZ-Interview. Mehr Schutz für Zivilisten nötig.



Völkerrechtlerin an der Universität Sydney
Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Die Völkerrechtlerin Emily Crawford lehrt an der Universität Sydney. Am Donnerstag wird sie in Heidelberger mit dem Cambridge-Award des Max-Planck-Instituts für internationales öffentliches Recht und Völkerrecht ausgezeichnet.
Ganz allgemein: Wie weit geht Israels Recht auf Selbstverteidigung?
Jeder Staat mit dem Recht auf Selbstverteidigung kann es nur so weit ausüben, wie seine Antwort notwendig ist, um einen Angriff zurückzuschlagen, und wie sie verhältnismäßig ist.
Ist das fast sieben Wochen nach dem Massaker des 7. Oktober noch der Fall?
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Es gibt durchaus Argumente dafür, dass das immer noch Teil einer Antwort ist, weil es ein fortgesetzter Angriff der Hamas ist. Es ist allerdings umstritten, wann aus einem Akt der Selbstverteidigung ein bewaffneter Konflikt wird. Wahrscheinlich haben wir es hier mit beidem zu tun.
Was ist notwendig – und was nicht?
Ein Teil des Problems besteht darin zu sagen, ob Gewalt gegen die Hamas diese überhaupt aufhalten kann. Das ist immer das Problem bei Terrorgruppen, anders als etwa im Ukraine-Krieg: Das Ziel ist, Russland aus der Ukraine rauszubekommen. Dann kann es einen Friedensschluss geben. Von der Hamas kennen wir nur das erklärte Ziel, Israel zu vernichten. Man kann also argumentieren, dass für Israel alles notwendig ist, bis die Hamas komplett geschlagen ist.
In Gaza gibt es jetzt etwa zehnmal so viele Opfer wie bei dem ursprünglichen Angriff der Hamas. Was sagt uns das über die Verhältnismäßigkeit?
Ich glaube, dass Israels Antwort nicht mehr verhältnismäßig ist. Es gab ein Zeitfenster, in dem sie sehr hart zurückschlagen konnten. Aber die Art der Ziele, die sie jetzt treffen, und die Zahl der Opfer bewegt sich stark in Richtung Unverhältnismäßigkeit. Die belastbaren, nachprüfbaren Beweise, dass die Hamas etwa Krankenhäuser als Einsatzbasen nutzt, sind einfach nicht stark genug.
Sie meinen zum Beispiel das Al-Schifa-Krankenhaus?
Ja. Dort sind zwar einige Waffen gefunden worden. Aber es gibt keine hinreichenden Beweise dafür, dass das Krankenhaus eine größere Operationsbasis der Hamas war, sodass ein Angriff darauf zu rechtfertigen wäre.
Aber wenn es den Beweis gäbe, würde es zum legitimen Angriffsziel?
Wenn sich herausstellt, dass Krankenhäuser oder Kulturgüter für militärische Zwecke gebraucht werden, werden sie ein mögliches Ziel. Aber selbst dann müssen Sie die Verhältnismäßigkeit wahren und sicherstellen, dass der Angriff nicht zu viel Kollateralschaden verursacht.
Muss Israel Zivilisten besser schützen?
Ja.
Was heißt das in der Praxis?
Israel muss viel klarer definieren, wen es als Zivilsten ansieht und wen als Hamas-Kämpfer. Es sieht so aus, als gäbe es nur eine Pauschal-Erklärung: Jeder, der nach dem Evakuierungsaufruf in Gaza geblieben ist, ist irgendwie ein legitimes Ziel. So funktioniert das Recht aber nicht. Wenn die Bevölkerung nicht fliehen will oder kann, macht sie das nicht zu legitimen Angriffszielen. Da geht Israel etwas willkürlich vor, um es milde auszudrücken, was seine Zielauswahl angeht.
Die Bevölkerung zu warnen reicht nicht? Darauf beruft sich ja Israel.
Wie wir hören, ist es unmöglich, Gaza zu verlassen. Die Grenzen sind geschlossen. Nur wenige Leute werden überhaupt rausgelassen. Wenn man bedenkt, dass es ein so dicht besiedeltes Gebiet ist, bringt uns das zu der Frage, wohin sie eigentlich fliehen sollen. Selbst nach einer Warnung entbindet das die angreifende Seite nicht von der Pflicht zur Verhältnismäßigkeit. Eine Warnung ist keine Blankovollmacht, wahllos zuzuschlagen.
Die Armee würde jetzt sagen: Wir warnen doch – es ist die Hamas, die die Menschen von der Flucht abhält und als Schutzschild missbraucht. Verändert das etwas an der Verantwortung?
Nein. Hamas-Kommandeure zwingen Zivilisten, in bestimmten Gebieten zu bleiben, um ihre zivile Immunität zu benutzen. Das macht sie verantwortlich nach internationalem Strafrecht. Aber das entbindet keine andere Konfliktpartei von ihren Pflichten. Einige Staaten werden da widersprechen. Aber selbst wenn Zivilisten gezwungen werden oder sogar freiwillig bleiben, sind sie immer noch Zivilisten. Und das muss bei der Verhältnismäßigkeit bedacht werden.