Vor allem Linke stehen unter Verdacht
50 Jahre Radikalenerlass: Vor allem Linke sind von der Regelung betroffen.

Von Michael Abschlag
Heidelberg. Im Januar 1972 tritt eines der umstrittensten Gesetze der bundesdeutschen Gesichte in Kraft: der Radikalenerlass. Offiziell soll das Gesetz, dass Verfassungsfeinden den Weg in den Staatsdienst verwehrt, die Wehrhaftigkeit der Demokratie festigen. Tatsächlich aber gerät die Maßnahme bald schon in die Kritik – denn sie trifft keineswegs nur Radikale. Vor allem Linke sind von der Regelung betroffen, darunter nicht wenige Anhänger der Studentenbewegung. Aber wie konnte es dazu kommen?
> Die nervöse Republik: Der Radikalenerlass ist nicht die erste Regelung dieser Art: Bereits in den 1950er Jahren ermöglicht der "Adenauer-Erlass", Bewerber für den öffentlichen Dienst abzulehnen, wenn es Zweifel an ihrer Verfassungstreue gibt. Es ist der Kalte Krieg, im Westen geht die Furcht vor dem Kommunismus um. Vor allem die Studentenbewegung, die 1968 ihren Höhepunkt erreicht, ist vielen ein Dorn im Auge. Als sie Anfang der 1970er Jahre in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel zerfällt, der RAF-Terror beginnt, warnen vor allem Konservative vor der vermeintlich drohenden "Unterwanderung" des Staates durch "Extremisten".
"Andreas Bader als Polizist"
> Ein Kanzler unter Druck: Zu dieser Zeit hat die Bundesrepublik erstmals einen linken Kanzler: Willy Brand (SPD) ist 1969 ins Amt gekommen, an der Spitze einer sozialliberalen Koalition. Die Regierung hat ehrgeizige Pläne, ihre "neue Ostpolitik" ist heftig umstritten. Von der Opposition unter Beschuss genommen, wählt Brand die Flucht nach vorne: Um zu beweisen, dass er keine Sympathien für den Kommunismus hegt, bringt er den Erlass auf den Weg. "Ulrike Meinhof als Lehrerin und Hans Baader als Polizist" seien undenkbar, verkündet etwa NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD).
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> Theorie und Praxis: Der "Radikalenerlass" basiert auf zwei Grundgedanken. Erstens: Wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht vertritt, darf kein Beamter sein. Zweitens: Jeder Einzelfall ist zu prüfen. Bewerber, die als verfassungsfeindlich eingestuft werden, erhalten keine Anstellung, Beamte werden aus dem Staatsdienst entlassen. Als Zeichen der Radikalität gilt schon die Mitgliedschaft in Organisationen, in denen Kommunisten aktiv sind: So gerät etwa der sozialdemokratische "Sozialistische Hochschulbund" ins Visier der Behörden.
Betroffen sind Staatsbediensteten in allen Bereichen – Lehrer, Juristen, aber auch Bahn- und Postangestellte. Theoretisch richtet sich der Erlass gegen Radikale von Links wie von Rechts, praktisch trifft es fast ausschließlich Linke. In Bayern etwa werden bis 1980 aus dem linken Spektrum 102 Bewerber abgelehnt, aus dem rechten gerade mal zwei.
Kritik aus Frankreich
> Ein deutscher Sonderweg? Am Radikalenerlass gibt es bald schon zunehmend Kritik, erst unter Studenten, dann auch in der breiteren Bevölkerung. In der Regierung rumort es, große Teile der SPD und der FDP rebellieren. Und auch aus dem Ausland kommt Kritik: Frankreichs Sozialisten unter Francois Mitterand haben gerade eine linke Regierung gebildet, die mit Besorgnis auf die Entwicklung im Nachbarland schaut – der Radikalenerlass gilt als Rückkehr zu autoritären Strukturen und "deutscher Sonderweg".
> Das Ende: Der wachsende Unmut sorgt dafür, dass die Regierung – inzwischen unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) – eine Kehrtwende vollzieht: 1979 wird beschlossen, dass nur bei konkreten Verdachtsmomenten eine Anfrage zur Person beim Verfassungsschutz erfolgen soll.
Bis Mitte der 1980er Jahre wird die Regelanfrage in den meisten Bundesländern abgeschafft, als letztes fällt sie 1991 in Bayern. Bis dahin wurden bundesweit 3,5 Millionen Menschen überprüft. 1250 Lehrer und Professoren wurden nicht eingestellt, rund 260 Personen entlassen.