Angela Schickhoff (M.) übt mit den Töchtern Anni und Dori beim Einkaufen Rechnen. Foto: dpa
Von Anne-Sophie Galli
Potsdam. Familie Schickhoff hat das ganze Jahr einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, von den Kinder auf die Wände gemalt. Auf einem Regal stehen Schulbücher - meist unberührt. Die Kinder lernen seit knapp drei Jahren ohne sie zu Hause. Damals fragten die Eltern, ob sie weiter zur Schule gehen wollten.
"Die Schule war langweilig", sagt die inzwischen zehnjährige Dori. Ihr eineinhalb Jahre älterer Bruder Caje wurde gemobbt, auch die damals 17-jährige Anni, eine Autistin, fühlte sich unwohl. Die damals 16-jährige Betty schmiss die Schule ein halbes Jahr später. Sie wollte nicht als einzige früh aufstehen.
Damit macht sich die Potsdamer Familie strafbar. In Deutschland gilt Schulpflicht. Ausnahmen gibt es nur für Diplomaten- oder Schaustellerkinder und manchmal bei Krankheiten. Ansonsten drohen Bußgeld, Verlust des Sorgerechts oder in einigen Ländern sogar Haft. Die Schule sei wichtig, da Kinder dort Wissen vermittelt bekämen und lernten, wie man sich in der Gesellschaft mit Andersdenkenden verhält, urteilte das Verfassungsgericht 2006.
Die Schickhoffs überlegten sich, auszuwandern. Tochter Betty war dagegen. Also entschlossen sie sich zum "zivilen Ungehorsam", wie sie es nennen - und meldeten dies dem Jugendamt. "Natürlich hatten wir Angst, unsere Kinder zu verlieren", sagt Angela Schickhoff. "Aber wir hofften, die Behörden erkennen, dass es ihnen auch ohne Schule gut geht."
Laut Kultusministerkonferenz gibt es bundesweit rund 500 bis 1000 Heimunterricht-Familien. Einige sehnen sich wie die Schickhoffs nach freier Entfaltung. Für streng-religiöse Familien widerspricht der Sexualkunde- oder Biounterricht der Weltanschauung. Viele tauchen unter und leben illegal weiter in Deutschland. Andere reisen viel, leben im Wohnwagen oder wandern aus.
In einigen Kantonen der Schweiz zum Beispiel ist Heimunterricht erlaubt. Kinder müssen aber nachprüfbar Lernziele erreichen: Bildungs- statt Schulpflicht.
Die Schickhoffs erhalten immer wieder Besuch vom Jugendamt. Die Schulbehörde verhängte Zwangsgelder in Höhe von mehreren tausend Euro. Aber die Schickhoffs zahlen nicht. "Immer wenn Briefe kommen, kommt Angst auf", sagt die 48 Jahre alte Mutter. "Aber wir lassen nicht zu, dass sie uns trennen." Tochter Dori sagt: "Die meinen, wir machen nur Ferien, aber wir lernen ja immer etwas."
Die Schickhoffs sind Freilerner - die freiste Art Heimunterricht. "Kinder lernen nur, wenn sie etwas interessiert", erläutert die Mutter. "In der Schule vergessen sie nach den Prüfungen meist alles wieder." Die Eltern zwingen Caje und Dori zurzeit nur zu einer Sache - ab und zu Schreibschrift üben. "Alles andere lernen sie von selbst, wenn sie es brauchen - mal früher, mal später als andere Kinder."
Caje etwa lernte lesen, weil er Anleitungen für seine Computerspiele verstehen wollte. Seine jüngere Schwester übt gerade Keyboard und lernt mit Youtube-Filmen Englisch. Mit Besuchen in Bibliotheken oder Werkstätten versuchen die Eltern, den Kindern Anreize zum Lernen zu bieten. Beim Einkaufen lernen sie Alltags-Mathe. Das ist möglich, weil die Eltern Teilzeit arbeiten - als Flüchtlingsbetreuerin und als Schlossführer.
Langzeitstudien über die Folgen von Heimunterricht gibt es kaum, sagt der Soziologe Thomas Spiegler von der Theologischen Hochschule Friedensau. Der Lehrerverband sieht die Bewegung skeptisch: Die Kinder hätten zwar oft keine Leistungsprobleme, aber Schwierigkeiten, sich richtig einzuschätzen und mit Kritik von anderen umzugehen.
Die Schickhoffs bezweifeln das. Oft kommen ehemalige Schulkameraden zu Besuch. Dori und Caje können sich aber nicht vorstellen, wieder zur Schule zu gehen. Betty will sich politisch gegen die Schulpflicht einsetzen. Anni, 20, möchte ihr Abitur nachholen, um Physik zu studieren: "Aber die Schule gefällt mir immer noch nicht."