Bamberg. In der Stadt träumen viele davon, raus aufs Land zu ziehen. Weg vom Lärm, von der Hektik. Doch die Zahlen vermitteln ein ganz anderes Bild. 77 Prozent der Deutschen wohnen in Städten oder Ballungsgebieten. Nur 15 Prozent leben in Dörfern mit weniger als 5000 Einwohnern, Tendenz sinkend. Werner Bätzing, emeritierter Professor für Kulturgeographie, macht sich Sorgen um "Das Landleben" (so auch der Titel seines Buches). Unser Autor Jan Draeger sprach mit ihm über falsche Harmonievorstellungen, lebenswichtige Nachbarschaftskontakte und darüber, was das Land dem Städter an Herausforderungen bieten kann.
Foto: Jon Duschletta/Engadiner PostHerr Bätzing, leben Sie in der Stadt oder auf dem Land?
Ich lebe in Bamberg. Mitten in der historischen Altstadt.
Aufgewachsen sind Sie in einem Dorf in Nordhessen, in Istha. Sehnen Sie sich manchmal nach dem Landleben?
Ja, aber ich brauche die städtischen Infrastrukturen und die Universität, weil ich weiterhin wissenschaftlich tätig bin.
In Istha leben heute rund 800 Einwohner. Wie hat sich das Dorf seit Ihrer Kindheit verändert?
Als ich in den Fünfzigerjahren dort aufwuchs, war es noch ein richtiges Bauerndorf, in dem die Menschen gelebt, gearbeitet und ihre gesamte Freizeit verbracht haben. Heute ist es ein Dorf, in dem die Menschen nur wohnen und im Großraum Kassel arbeiten. Istha war ein sehr renitentes Dorf. Es hat sich dagegen gewehrt, seine Schule und seine Gemeindeautonomie zu verlieren. Heute ist es ein Ortsteil der Kleinstadt Wolfhagen ohne Schule.
Wo ist Heimat für Sie?
Eine Heimat im traditionellen Sinn habe ich nicht. Dazu bin ich zu oft umgezogen. Eine Art Ersatzheimat sind für mich die Alpen geworden.
Sie sind ja auch Alpenforscher …
Da habe ich ein Seitental, über das ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, das kenne ich seit über 40 Jahren. Eine unmittelbare Heimat – dass man da zu Hause ist, wo man aufgewachsen ist – gibt es für mich und für viele Menschen nicht mehr. Heute muss man sich quasi selbst eine Heimat schaffen.
Erklären Sie das bitte genauer.
Durch berufliche Sachzwänge muss man immer öfter umziehen. Die Herausforderung ist dann, dass man an dem Ort, an dem man lebt, sich auch heimisch fühlt und Verantwortung übernimmt: für die Menschen, die Kultur, die Natur. Dass man sich dafür engagiert, dass die Heimat lebenswert bleibt und nicht schleichend entwertet wird.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie das Landleben als eine gefährdete Lebensform …
Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass man das Land gar nicht mehr braucht. Aber das Land ist immer noch extrem wichtig. Die Stadt kann ohne das Land nicht existieren. Das Land versorgt die Stadt mit Lebensmitteln und Rohstoffen und mit sauberer Luft und sauberem Wasser. Außerdem brauchen die Menschen das Land als Ausgleich, um in der Stadt dauerhaft gut leben zu können. Wenn sie nur in dicht bebauten Gebieten leben würden, wäre das quasi eine Art Käfighaltung. Der Mensch braucht die Kulturlandschaften, die offenen, vom Menschen geprägten Landschaften mit ihren Wäldern, Fluren, Dörfern und Kleinstädten, in denen die Geschichte sichtbar ist. Ohne den Bezug zur Umwelt und Geschichte verliert der Mensch seine eigene Grundlage.
Viele in der Stadt träumen davon, aufs Land zu ziehen …
Viele glauben, alles wäre dort harmonisch. Aber auf dem Lande gibt es genauso Konflikte wie in der Stadt. Schwierig wird es, wenn man als Städter auf dem Land weiterhin städtisch leben will. Auf dem Land wird zum Beispiel erwartet, dass man mit dem Nachbarn Kontakt hat. Denn dort braucht man ihn für Not- und Unglücksfälle. Wenn der Städter aber nur mit Leuten sprechen will, die ihm sympathisch sind, läuft er gegen die Wand.
Er muss aber auch auf die kulturellen Angebote verzichten, die er gewohnt war.
Dafür gibt es viel Platz auf dem Land, die Kosten für Raummiete sind niedrig. Die Schwelle, etwas selber zu machen, etwas selber aufzubauen, ist viel niedriger. Und das Land lechzt quasi danach, dass Leute diese Freiräume realisieren. Man findet relativ schnell ein dankbares Publikum.
Trotzdem veröden die Dörfer. Viele Läden machen zu, Ärzte finden keine Nachfolger …
Die Sache mit den Infrastrukturen ist deshalb schwierig, weil das Land von der Politik immer mehr abgehängt und neoliberalen Kostengesichtspunkten unterworfen wird. Deshalb müssen die Menschen selbst initiativ werden. Sie müssen selbst Strukturen aufbauen und zugleich von der Politik fordern, dass diese Strukturen auch gefördert werden. Auf dem Land hat man an einem Ort wenig Nachfrage, deswegen müssen verschiedene Bereiche miteinander verbunden werden: ein Dorfladen muss auch ein Café, eine Beratungsstelle haben.
Ich war mal vor Jahren in einem Dorf in Baden-Württemberg. Dort wurde gerade ein neuer Kindergarten gebaut. Damit sollten mehr Familien angezogen werden. Der örtliche Fußballverein begrüßte jeden neuen Zuzug und fragte, ob die Kinder nicht im Verein mitspielen wollten. Wäre das ein Erfolgsmodell?
Ja. Auf dem Land, das haben soziologische Untersuchungen ergeben, spielt das Gemeinschaftsleben – sei es das Familienleben, sei es das Leben in der Kirchengemeinde, im Verein – eine viel größere Rolle als in der Stadt. Gerade die Sportvereine sind meines Erachtens der Schlüssel, um ein Dorf lebendig zu halten, um Zuzügler aktiv zu integrieren.
Gleichzeitig wandern die Jungen vom Dorf in die Stadt ab …
Das kann letztlich nur gestoppt werden, wenn auf dem Land attraktive Arbeitsplätze neu entstehen und die Infrastrukturen verbessert werden. Was aber nicht heißen soll, dass Firmen, die für den globalen Markt produzieren, sich massenhaft auf dem Land ansiedeln sollen. Dadurch würde das Land bestenfalls verstädtert. Ich denke an Arbeitsplätze im ländlichen Raum, die die regionalen Potenziale nicht nur im Bereich Lebensmittel sondern auch von Energie, Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen nutzen.
"Landlust" war eine der wenigen erfolgreichen Zeitschriften-Neugründungen der vergangenen Jahre. Wie erklären Sie sich deren Erfolg?
Die Zeitschrift entstand genau dann, als in Deutschland zum ersten Mal die Probleme der Globalisierung von den Menschen als Bedrohung wahrgenommen wurden. Daher entstand um das Jahr 2005 herum auf einmal die Vision des Landlebens als Idylle, als Gegenmodell zur Globalisierung.
Aber eine falsche Idylle?
Ja. Europa hat eine sehr lange Tradition, in der das Landleben idealisiert wird. Mit diesen bukolischen Landschaften, mit dem Hirten, der Flöte blasend im Gras liegt, gar nicht arbeitet, drumherum grasen Schafe und dahinter fließt ein Bächlein.
Was kann die Stadt vom Land lernen?
Dass die Natur stärker als der Mensch ist. Auf dem Land gibt es lange Erfahrungen, die deutlich machen: Wenn der Mensch in die Natur eingreift und Natur zum Zwecke der Lebensmittelproduktion verändert, dann muss der Mensch diese veränderte Natur auch pfleglich behandeln und sich für ihre Stabilität verantwortlich fühlen. In der Stadt hat man dagegen das Gefühl, Natur kann man beliebig verändern, da muss man auf nichts groß achten.
Und was kann das Land von der Stadt lernen?
Dass es nicht immer sinnvoll ist, alles genauso zu machen, wie man es schon in den vergangenen Generationen gemacht hat. Dass Innovationen durchaus etwas Wichtiges sein können.
Wie sehen Sie das Verhältnis Stadt und Land in zehn Jahren?
Das Land könnte noch weiter an den Rand gedrängt werden. Schon jetzt ist die Sterberate dort deutlich höher als im deutschen Durchschnitt. Mit Corona könnte es zwar rein theoretisch zu einem Trendbruch kommen. Weil das Land von den globalen Verflechtungen nicht so abhängig wie die Stadt ist, gibt ihm dies größere Stabilität. Wenn man in dieser Situation die regionalen Wirtschaftsverflechtungen zwischen Stadt und Land stärkt, könnte man sich von den globalen Instabilitäten etwas unabhängiger machen. Aber die Entwicklung geht derzeit leider genau in die entgegengesetzte Richtung.