Von Michael Ossenkopp und Alexander R. Wenisch
Carlos Santana erinnert sich später: "Von Anfang an herrschte schlechte Stimmung." Und Stones-Gitarrist Keith Richards sagt: "Die Gewalt direkt vor der Bühne war unglaublich." Ein dilettantisch vorbereitetes Open-Air-Konzert in den Bergen östlich von San Francisco mündete in Chaos und einem Mord.
Es ist der 6. Dezember 1969. Ein Samstag. Bereits um 7.30 Uhr drängen sich Menschenmassen rund um den Altamont Speedway. Die Rolling Stones sollen auftreten, als Höhepunkt ihrer US-Tour. Crosby, Stills, Nash & Young sind angekündigt, Jefferson Airplane, Santana und die Flying Burrito Brothers. Altamont soll das Gegenstück zu "Woodstock" werden. Wo könnte das besser passen, als in San Francisco, der Hochburg der "Love & Peace"-Bewegung?
Doch die Stadt sagt ab, weshalb kurzfristig, am vorletzten Abend, entschieden wird, auf die alte Rennstrecke in Altamont auszuweichen. Und dann strömen die Massen heran. Mit 100.000 Rockfans war gerechnet worden. Am Ende bahnen sich 300.000 den Weg über staubige Hügel und mit Kuhmist gespickte Wiesen. Zu Fuß. Denn Autos müssen am Highway geparkt und die restlichen zehn Kilometer bis zum Festivalgelände "erwandert" werden.
Dort ist auch die Bühne nur improvisiert. Ein hastig zusammengebautes Podium, 1,20 Meter hoch und mit einem einfachen, dünnen Seil umspannt. Dies bietet weder Schutz für Musiker, noch für Zuhörer. Und dann ist da noch das "Sicherheitspersonal": Rocker der als gewaltbereit bekannten Biker-Gang Hells Angels sollen für Ordnung sorgen. Empfohlen hatten sie die Musiker von Grateful Dead. Und mit Stones-Tourmanager Sam Cutter hatten die Biker angeblich einen Deal geschlossen: Bier im Gegenwert von 500 Dollar als Gage. Hinterher wird diese Behauptung jedoch von beiden Seiten bestritten.
Die meisten der Hells Angels stehen an diesem 6. Dezember jedenfalls unter Einfluss einer unheilvollen Mixtur aus Speed und Alkohol. Als die Stones nach "Jumpin Jack Flash" und "Carol" den Song "Sympathy for the Devil" spielen, geraten einige Zuschauer mit den "Ordnern" aneinander. Zugedröhnte Biker werfen ungeöffnete Bierdosen in die Menge und schlagen mit bleibeschwerten Billardqueues wahllos auf Zuschauer ein, um die Menschen zurückzudrängen. Selbst Airplane-Sänger Marty Balin wird von einem Rocker k.o. geschlagen.
Meredith Hunter beim Festival.Meredith Hunter hat sich auf das Konzert gefreut. Seine Schwester hatte ihm zwar von dem Besuch abgeraten. Aber hey, die Stones will der 18-Jährige sehen, und zwar zusammen mit seiner Freundin Patti Bredehoft. Doch während Jagger & Co. den Song "Under my Thumb" spielen, kommt es vor der Bühne zu einem wüsten Handgemenge. Was tatsächlich passiert ist, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Hunter soll sich mit Messer und Pistole nach vorne gedrängt und mit der Feuerwaffe in Richtung Bühne gezielt haben. Augenzeugen berichten allerdings, die Hells Angels hätten den jungen Schwarzen bedroht, weil er mit einer weißen Freundin da war.
"Nein, er hatte die Waffe noch nicht gezogen und er begann zu rennen und Leute beiseite zu stoßen, als ihn die Biker durch die Menge jagten", erinnert sich einer der Umstehenden später. "Ich habe kurz das Aufblitzen einer Klinge gesehen. Alles geschah sehr schnell. Der schwarze Junge zog eine Waffe und hielt sie in die Luft … das war sozusagen sein letzter Ausweg", erinnert sich der Augenzeuge. Und weiter: "Ein Mädchen schrie ,erschieß niemanden‘. Ich denke, der junge Mann hatte viel zu viel Angst, um überhaupt zu schießen. Einer der Hells Angels nahm ihm die Waffe ab … und stach ihn nieder."
Der Hells Angel Alan Passaro drückt Hunter nach unten und rammt ihm zwei Mal sein Messer in den Nacken. Weitere Biker schlagen und treten auf den Jungen ein. Schließlich fällt er auf sein Gesicht. Einer der Hells Angels rollt ihn auf den Rücken und Hunter flüstert seine letzten Worte: "Ich wollte niemanden erschießen."
Schließlich ruft Jagger: "Wir brauchen einen Krankenwagen und einen Arzt." Hinter der Bühne hält sich Robert Hiatt auf und reagiert schnell auf den Hilferuf. "Der Verletzte hatte mehrere schwere Wunden. Mir war schnell klar, dass er es nicht schaffen würde. Es gab keine Ausrüstung und nicht einmal Infusionsflüssigkeit", berichtet der Arzt später.
Und die freiwilligen Sanitäter haben ohnehin viel zu tun. Sie müssen Dutzende von Schnittwunden und Knochenbrüchen behandeln. "Die Zahl der gewaltbedingten Verletzungen war ungewöhnlich hoch", sagt der Arzt Richard Fine rückblickend, bis zu 850 Menschen wurden verletzt. Jagger schaut dem Geschehen rat- und hilflos zu – und die Band spielt ihr Konzert zu Ende.
Hippies warten auf den Konzertbeginn.Der damalige Stones-Gitarrist Mick Taylor erklärt: "Ich hatte Angst um uns, besonders um Mick, weil er sehr vorsichtig sein musste, was er sagte. Ich denke, irgendwann wären wir vielleicht von der Bühne gegangen, aber das wäre eine Katastrophe gewesen. Wir mussten einfach weitermachen und so gut wir konnten spielen."
Der Täter Passaro wurde angeklagt, weil er Hunter mit einem 15 Zentimeter langen Messer erstochen hat. Andere Hells Angels hatten dem Teenager noch drei weitere Stichverletzungen zugefügt und ihm wiederholt an den Kopf und gegen die Brust getreten. Passaros Anwalt George Walker – selbst Afroamerikaner – plädierte auf Notwehr, sein Mandant habe lediglich andere schützen wollen. Passaro wurde freigesprochen.
"Wenn Woodstock der Traum war", glaubt der britische Fotograf Eamonn McCabe, "dann war Altamont der Albtraum." Die tragischen Ereignisse gelten als Ende der unbeschwerten 1960er-Jahre, als "Abgesang einer Epoche" oder "Tod der Gegenkultur". Jagger hingegen lehnt diese Gedanken ab: "Natürlich behaupten einige Leute, Altamont sei das Ende einer Ära gewesen. Ich hätte gedacht, dass es lange vorher zu Ende war."
Tatsächlich boten die verklärten 1960er Jahre neben "Love and Peace" auch ein durchaus gewalttätiges Umfeld, das von Studentenunruhen, Black-Power-Bewegung, Vietnam-Desaster, politisch motivierten Morden und Charles Manson geprägt war. "Bei der Reduzierung der 60er-Jahre auf eine Zeit der Unschuld voller Liebe, Frieden und Blumen handelt es sich um eine drastische Mythologisierung", meint auch der Musikjournalist Eric Danton.
Es ist schon erstaunlich, dass Altamont den Ruf der Stones nicht für immer ruiniert hat", schreibt Saul Austerlitz in seinem 2018 erschienenen Buch "Just a Shot Away". Für ihn bleibt es allerdings inakzeptabel, dass sich die Bandmitglieder niemals entschuldigten – weder bei Hunters Familie noch bei den Fans. Neben dem Teenager starben noch drei weitere Besucher während des Festivals. Einer rutschte unter Drogeneinfluss einen Bewässerungskanal hinunter und ertrank, zwei Männer wurden von einer Limousine überrollt, der Fahrer flüchtete.
Die Frage nach den Schuldigen für die katastrophale Show konnte nicht abschließend geklärt werden. Die Stones haben sich aber anschließend geweigert, je wieder mit den Hells Angels zusammenzuarbeiten – woraufhin die Rocker versucht haben sollen, Mick Jagger zu ermorden. Der Altamont Speedway indes wurde im Oktober 2008 stillgelegt.