Von Jörn Ludwig
Berlin. Alexa, finde eine Selbsthilfegruppe für GZSZ-Langzeitabhängige im mittleren Lebensalter!" – "Das weiß ich leider nicht." Sonst ist sie ja nie um eine Antwort verlegen, aber wenn man das Ding einmal wirklich braucht ... Meine Google-Suche hat mich auch nicht weitergebracht. Bin ich denn tatsächlich der Einzige meiner Art? Wie einst die Schildkröte "Lonesome George" auf den Galapagosinseln? Es scheint fast so.
Ich versuche aber nicht, mich zu rechtfertigen. Ich versuche nicht einmal, eine Entschuldigung zu finden. Schließlich gibt es Menschen, die weitaus schlimmere Macken haben als ich. Obwohl – vielleicht wäre es doch einfacher, unter Kleptomanie, unangenehmem Körpergeruch oder Ähnlichem zu leiden. Dafür hat die Umwelt meist noch Verständnis. Wenn aber ein 50-Jähriger allabendlich vor dem Fernseher sitzt und "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" schaut, ist das schon ein Makel, den man den Leuten nicht so einfach begreiflich machen kann.
Doch ich habe gelernt, selbstbewusst damit umzugehen. Die Zeiten, in denen ich mich abends zurückzog und behauptete, ich müsse Meditationsübungen ausführen, die mich ein 124 Jahre alter tibetischer Mönch gelehrt hat, sind vorbei. Und zwar seit dem Tag, an dem ich herausgefunden habe, dass es doch noch mehr von meiner Sorte gibt. Die sind zwar im Schnitt so um die 14, aber was soll’s. Denn so viel älter bin ich ja auch nicht. Zumindest rede ich mir das ein.
Angefangen hat alles ganz harmlos im Frühjahr 1992. Überall war von dieser neuen Serie zu lesen, der ersten deutschen "Soap Opera". Kritiker hatten sie schon totgeschrieben, bevor die erste Folge ausgestrahlt war. Wähnten die Fernsehlandschaft in unserem Lande mit dieser "Daily" gar endgültig an den Rand des Abgrunds amerikanisiert. Klar, dass ich bei solch einem epochalen Moment der TV-Geschichte dabei sein musste.
Mit ihren Bedenken bezüglich der Qualität der Produktion hatten sie natürlich recht gehabt, zumindest was die Anfangszeit betrifft: Einige der Darsteller – vor allem die jungen, die nie zuvor auf einer Bühne oder vor einer Kamera gestanden hatten – spielten ihre Rollen erbärmlich. Die Aufnahmen waren bessere Amateurklasse. Fließbandproduktion eben. Es schien zunächst undenkbar, dass diese leichte tägliche Fernsehkost lange überleben wird.
Als aber am Ende der ersten Folge die Fragen offenblieben, ob sich Clemens und Vera Richter nun endgültig trennen werden, ob Heiko, Tina, Peter, Patrick und Elke wirklich Ernst machen und kurz vor dem Abi die Schule schmeißen und ob die Lehrerin Elisabeth Meinhart ihren Selbstmordversuch überleben wird, hing ich schon am Haken. Ich zappelte, konnte mich aber nicht mehr befreien.
Das Zappeln habe ich nach 7500 Folgen längst aufgegeben. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden, bis zur letzten Folge – möge sie niemals kommen – auf Gedeih und Verderb mit dieser Serie zusammengeschweißt zu sein. In guten wie in schlechten Zeiten. Und von beiden gab es in den vergangenen drei Jahrzehnten jede Menge.
Ich war Zeuge, als Tommy erblindete und später sein Augenlicht wiedererlangte, genau wie ein paar Jahre darauf Charlotte. Und das Gesetz der Serie gibt mir die beruhigende Gewissheit: Auch Yvonne wird eines Tages wieder sehen können. Wollen wir wetten? Ich war dabei, als Jo sich durch seine üblen Machenschaften selbst in den Rollstuhl beförderte und nach einigen Monaten auf wundersame Weise wieder laufen konnte. Auch hier gab es später ein Déjà-vu, diesmal mit Leon, mit dem ich in all den Jahren so viel durchgemacht habe. Gemeinsam haben wir Freudentränen vergossen, als er – noch vor der Wunderheilung – seiner Verena ewige Treue schwor. Und Tränen der Trauer, als sie durch einen tragischen Unfall so jäh aus ihrem jungen Leben gerissen wurde und Leon mit dem kleinen Sohn Oskar allein zurückließ.
Gute und schlechte Zeiten habe ich auch an der Seite der unterkühlten Katrin erlebt, die durch den quirligen Bommel erst die Lust aufs Leben entdeckte, um ihre große Liebe dann schließlich an eine heimtückische Krankheit zu verlieren. Ich konnte beobachten, wie Jo Gerner vom Erzbösewicht zum liebenden Familienmenschen und der brutale Schläger Tuner zum empathischen Sympathiebolzen mutierte, wie Ex-Knacki Erik und die Polizistin Toni zum Traumpaar wurden. Und ich gebe freimütig zu: Ich will mehr davon!
Miesmacher würden mir vorwerfen, ich hätte ein Suchtproblem. Aber das habe ich nicht! Na ja, Sucht schon, aber wo bitte liegt das Problem?
Ist es denn schädlich, wenn ich seit Wochen dem Augenblick entgegenfiebere, in dem Gerner endlich seinen skrupellosen Gegenspieler Linostrami zur Strecke bringt? Wenn ich Philipp mit Herzblut die Daumen drücke, dass er nach dem sicher geglaubten Chefarztposten nicht auch noch Sunny an den smarten Noah verliert? Und bete, dass es für Paul, obwohl er im Suff eine andere geschwängert hat, doch noch eine gemeinsame Zukunft mit Emily geben wird? Ist es schädlich, dass ich extra das kostenpflichtige Streamingangebot von RTL abonniert habe, um auch auf Urlaubsreisen ja nicht zu verpassen, was im Kollekiez passiert?
Für einen 50-jährigen Familienvater ist das alles zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich. Aber schädlich? Ich glaube nicht. Bedenklich? Vielleicht ein bisschen. Ich werde noch einmal darüber nachdenken. Allerdings nicht in der nächsten dreiviertel Stunde. Ich muss jetzt nämlich aufhören: Es ist schon halb acht vorbei, und ich habe gleich einen wichtigen Termin ...