Von Simon Michaelis
Darmstadt. Der Darmstädter Carlo Drechsel (31) surfte die westafrikanische Küste ab und durchquerte in 542 Tagen 25 Länder – alleine, ohne Smartphone und ohne genauen Plan. Auf der Suche nach der perfekten Welle erlebte er zwischen Marokko und dem Kap der guten Hoffnung das Abenteuer seines Lebens
60.000 Kilometer in einem schrottreifen Jeep durch Afrika - Carlo, wie kommt man auf so eine Idee?
Der Trip war ein Lebenstraum - nicht Backpacken in Australien oder eine Rundreise durch die USA, ich habe mich gefragt: Was ist das Abenteuerlichste, was ich mir geben kann? An der gesamten afrikanischen Westküste gibt es ohne Ende gute Surfspots und geile Wellen, die zum Teil noch nie gesurft wurden. Ich wollte nicht nur darüber lesen oder mir in Dokumentationen wie "Endless Summer" anschauen, wie die Surfpioniere dieser Welt ins Unbekannte aufbrachen, um perfekte Wellen an einsamen Stränden zu surfen. Ich wollte es selber erleben.
Die Küste ist surftechnisch also noch unerschlossen?
Total! Du kannst einen Küstenabschnitt von 1000 Kilometern abreißen, ohne einen einzigen Surfer zu treffen. Und im ghanaischen Ort Busua findest Du plötzlich eine kleine Community von vielleicht 15 oder 20 Surfern. In ein paar kleinen Dörfern öffnen Surfschulen, dahingehend ist Westafrika gerade in einer Art Aufbruchstimmung.
Carlo Drechsel "Insight Africa", teNeues-Verlag. 208 Seiten. 19,99 Euro.Wie haben Sie sich auf die Reise vorbereitet?
Ich bin auf Google Maps die Küste hoch und runtergefahren und habe geschaut, wo ich hin möchte, wo gute Wellen sind. Ich habe jeden, den ich kenne, der dort mal gelebt hat, da herkommt oder irgendetwas darüber weiß, ausgequetscht. Was das Reisen an sich angeht, habe ich mich so gut wie überhaupt nicht vorbereitet, wirklich nur das eingepackt, was Du für zwei Wochen Camping in Frankreich mitnehmen würdest. Und davon die Hälfte. Klamotten, Teller, Messer, Matratze und ganz viele Surfbretter. Aber keinen Tisch, keinen Stuhl, kein besonders umfangreiches First-Aid-Kit, nicht mal ein Smartphone.
So ein Trip ohne Smartphone?
Ich hatte bis dahin keins und wollte mir extra für die Reise auch keins zulegen. Klar hatte das schon ein paar Nachteile, es gab Situationen, da wäre Google Maps oder einfach etwas Internet-Recherche praktisch gewesen. Wenn Du irgendwo gelandet bist und kein Hotel, keinen Campingplatz und auch sonst keinen Schlafplatz findest. Der Vorteil: Nur so kommst Du in diese völlig absurden Situationen, in denen eben nicht Google Maps oder Tripadvisor übernimmt, sondern das blanke Schicksal.
Mutprobe: Wenig vertrauenserweckend ist eine Brücke im Kongo. Foto: Carlo DrechselSind Sie denn ein Abenteurer oder vielleicht einfach nur lebensmüde?
Natürlich hatte ich extreme Bedenken, ich hatte wirklich Angst. Auf der Fähre nach Marokko fühlte ich mich wie im freien Fall. Das Loslassen fiel mir schwer. Ich hatte echt Schiss davor, mein Erspartes, ja mein ganzes Leben in dieses Abenteuer zu setzen. Auf der anderen Seite war mir klar, dass vieles aus der Distanz gesehen nicht der Realität entspricht. Ich bin einfach losgefahren, ließ es laufen.
Mit welchen Vorurteilen machten Sie sich auf den Weg?
Ich war anfangs schon voreingenommen, hatte Angst vor der angeblich korrupten Polizei, davor, ausgeraubt, entführt oder ermordet zu werden. Natürlich fühlt es sich komisch an, wenn Du durch eine Straße läufst und der einzig Weiße bist. Das kommt aber auch daher, dass Dir in Europa diese Vorurteile und Gedankenmuster eingeimpft werden. Viele davon gründen einfach nur auf blanker Unwissenheit. Die Menschen sind zum allergrößten Teil hilfsbereit und gastfreundlich und es herrscht eben nicht überall Bürgerkrieg, Korruption und Hunger.
Im Auto: Drechsel ist in Marokko angekommen, die Reise beginnt. Foto: Carlo Drechsel
Wie haben Sie die Menschen empfangen?
Das kann man dagegen fast tatsächlich pauschalisieren: freundlich, warm und neugierig. Manchen war ich natürlich auch ein bisschen suspekt. Man muss sich das mal vorstellen: Aus dem Nichts kommt plötzlich dieser komische, weiße Kauz mit dem langen Bart, den wilden Haaren und diesem völlig heruntergekommenen Auto voller Surfbretter angefahren. Das Aussehen ist schon ein Aufhänger, die Leute fragen nach und Du kommst ins Gespräch. Höflichkeit und Humor helfen auch immer. Als Surfer lernt man natürlich auch leicht andere Surfer kennen. Du hast diesen ganz intensiven gemeinsamen Nenner - eine total gute Brücke, durch die man super einfach Anschluss findet.
Wo haben Sie geschlafen?
Ganz oft haben mich Leute eingeladen. Eigentlich schlafe ich ganz gerne in meinem Auto, habe oft bei Familien gefragt, ob ich meinen Jeep über Nacht vor deren Haustüre parken dürfe. Manche fanden das aber nicht gastfreundlich genug und nahmen mich mit in ihre Wohnung. In Mali schlief ich mit Ziegen und zehn Kindern im Hof einer Familie. Nach einer Weile arbeitete das Netzwerk schon vor. Du lernst jemanden im Kongo kennen und er meint: "Besuch doch meinen Onkel in Windhoek, Ihr würdet Euch verstehen." Couchsurfen funktionierte auch hervorragend, so habe ich großartige Leute kennengelernt.
In Ghana freundeten Sie sich mit einem französischen Paar an, kurze Zeit später wurde das Paar beim Campen in Nigeria überfallen, der Mann ermordet. Wie geht man damit um?
Ich erfuhr davon einen Tag, bevor ich selbst nach Nigeria fahren wollte. Wäre ich nur ein paar Tage früher in Benin angekommen, wären wir möglicherweise zusammen weitergereist. Das war ein riesiger Schock. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Nach Kapstadt waren es noch 7000 Kilometer und acht Länder, vor mir die Grenze nach Nigeria, die als "toughest Border of Africa" bekannt ist. Aber sollte ich deshalb wirklich durch ganz Westafrika zurückfahren? Auch da hätte viel passieren können. Aufgeben war keine Option. Zumal ich später mit der Witwe sprach und sie meinte, sie wären unvorsichtig gewesen, hätten Fehler gemacht.
Welche?
Gerade in als unsicher geltenden Regionen sollte man nicht einfach sein Zelt aufschlagen und campen. Du solltest das immer vorher mit den Anwohnern klären, im Idealfall gehst Du zum Chief, dem Pastor oder einer respektierten Familie und fragst, wo Du schlafen kannst, das gehört zum guten Ton. "Ich würde gerne hier im Dorf schlafen oder zwei Kilometer weiter in einer Bucht - ist das in Ordnung?" Die Menschen bürgen also in gewisser Weise für Dein Leben. Stimmen sie zu, bist Du zu 99,9 Prozent safe.
In der Stadt: Turbulentes Treiben in Libreville, der Hauptstadt von Gabun. Foto: Carlo DrechselWelches Land hat besonderen Eindruck auf Sie hinterlassen?
Mali ist ein Land zwischen totalem Chaos, absoluter Schönheit und Ruhe. Die Region Pays Dogon dort ist einer der magischsten Orte dieser Erde. Ich besuchte Dörfer, in denen die Menschen noch leben wie vor Jahrtausenden: kein fließendes Wasser, kein Strom, keine Polizei, keine moderne Medizin. Dort trank ich mit einem 100-jährigen König Tee und aß Kolanüsse. Ich flog mit einem Leichtflugzeug Marke Eigenbau über den Niger, der deutsche Leiter einer naheliegenden EU-Kaserne meinte noch wenige Tage vorher zu mir, dass schon wenige Kilometer nördlich des Flusses Angriffe mit Raketenwerfern auf Konvois und Stellungen, Feuergefechte und Entführungen auf der Tagesordnung stehen würden. Auf der anderen Seite habe ich Natur noch nie als etwas so Wunderbares erlebt - der teilweise fast ein Kilometer breite Niger mitten in der Wüste.
Woher nehmen Sie Ihr scheinbar unerschütterliches Vertrauen?
Manchmal sind die Verkettungen von Zufällen, die Dir den Weg ebnen, einfach absurd. Dafür musst Du Dich aber wirklich gehen und treiben lassen, raus aus der Komfortzone. Es ist schon ein Phänomen, wie immer wieder positive Dinge geschehen. Und wenn Du das oft genug erlebst, gewinnst Du irgendwann dieses tiefe Vertrauen, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass das wirklich Zufall ist.
Inwiefern hat Sie die Reise verändert?
Ich habe Vertrauen, spirituelle Zuversicht gefunden. Und ich weiß nun, dass ich Dinge schaffe, von denen ich nicht wusste, dass ich dazu in der Lage bin. So einen Ritt auszuhalten, so lange zu fahren, so lange alleine zu sein, den Berg zu besteigen, die Welle zu surfen, das gibt Dir einen enormen Schub Selbstvertrauen. Außerdem konnte ich das Verhältnis zwischen der realen und der gefühlten Zeit wieder auf das Maß meiner Kindheitstage zurückdrehen. Ansonsten habe ich aber immer noch meine hessische Schnauze und reiße dieselben dummen Sprüche.