Fünf Forderungen stellen die Studenten an der Universität von Hongkong, unter anderem freie, demokratische Wahlen oder eine Untersuchung der Polizeigewalt. Mit diesen Zielen kann sich auch Malte Hinrichs identifizieren. Foto: Picture Alliance
Von Alexander Albrecht
Walldorf. Eigentlich würde er jetzt im T-Shirt bei angenehmen 20 Grad am Schreibtisch in seiner Studentenbude hocken. Mathematische Modelle analysieren, Grafiken erstellen, wissenschaftliche Abhandlungen lesen. Seminararbeiten anfertigen, für Klausuren pauken. Sich hin und wieder eine Pause gönnen und einen Blick durchs offene Fenster hinaus aufs Meer werfen, zu den Buchten und Segelbooten. Es gibt sicher schlechtere Orte für ein Auslandssemester – als Hongkong.
Stattdessen sitzt Malte Hinrichs in einem Café im 9000 Kilometer entfernten Walldorf, nippt an seinem Schwarztee und sieht, wie draußen der Regen auf die Straße plätschert. Der 20-Jährige ist wieder zu Hause. Vorzeitig und ungeplant. Nach den schweren Unruhen in Hongkong und an der Uni musste er zurückreisen.
Malte Hinrichs. F.: HPMalte Hinrichs ist kein Lautsprecher, der mit dem Erlebten prahlen würde. Reflektiert und überlegt beantwortet der Bachelor-Student der Volkswirtschaftslehre an der Uni Mannheim die Fragen des RNZ-Reporters. Der Abschied ist ihm nicht leicht gefallen. "Am Ende hatte ich das Gefühl, die Leute alleine zu lassen", sagt er mit einer Spur Wehmut in der Stimme.
Denn mit vielen Zielen der jungen Menschen und seiner Kommilitonen kann er sich bis heute identifizieren. "Keine Auslieferungen an China", "Eine Kommission, um die Polizeigewalt zu untersuchen", "Alle festgenommenen Demonstranten freilassen" oder "Allgemeines Wahlrecht und freie, demokratische Wahlen": Als Malte Hinrichs im August in Hongkong ankommt, lernt er recht schnell die Forderungen der Protestierenden kennen.
Auf die Straße gehen die Studenten in dieser Zeit meist nur am Wochenende. An Werktagen ist es ruhig. Malte Hinrichs hat sich ganz bewusst Hongkong für sein fünftes Semester ausgesucht. "Ich hatte Lust auf Asien, denn dort war ich noch nie", erzählt er. Die Uni in der Metropole sei erst in den 90ern erbaut worden, habe gerade in den Wirtschaftswissenschaften einen hervorragenden Ruf, liege abseits des Trubels in der City und direkt am Meer. Und dank der Partnerschaft mit der Mannheimer Universität muss er keine Studiengebühren zahlen. Die ersten zwei, drei Wochen sind für Hinrichs ungewohnt, wie er sagt. Über den Sport und das Studentenorchester, in dem er Geige spielt, findet der Walldorfer Anschluss.
Die Demonstrationen nimmt er wahr und diskutiert viel darüber mit seinem Hongkonger Mitbewohner. Und er spürt die Anspannungen. Die Festland-Chinesen hätten zwar einen Teil der Ziele der Revolte verstanden, dennoch seien sie "zu den Hongkongern eher auf Abstand gegangen", erzählt Hinrichs. Anfang November eskaliert die Lage. Ein Student stürzt während eines regierungskritischen Protests aus dem dritten Stock eines Parkhauses. Die genauen Umstände sind unklar, die Demonstranten machen die Polizei verantwortlich.
Malte Hinrichs beteiligt sich an einem – noch friedlichen – Trauermarsch. Dann jedoch schlägt die Verzweiflung in Gewalt um und es kommt zu Ausschreitungen zwischen Studenten und Regimekritikern auf der einen und der Polizei auf der anderen Seite. Die Protestierenden blockieren Transportwege, um China wirtschaftlich zu schaden. Hunderte Studenten verbarrikadieren sich auf dem Campus und leisten Widerstand gegen die Einsatzkräfte. "Ich hatte zwar keine Angst", sagt Hinrichs rückblickend. "Aber ich habe auch stets versucht, mich nicht in Gefahr zu bringen." Darauf vertrauen seine Familie und Freunde in der Kurpfalz, die sich angesichts der Fernsehbilder verständliche Sorgen machen.
Einmal wird es ernst für Hinrichs. Nach einem kurzfristig abgesagten Auftritt seines Orchesters will er mit anderen Ensemblemitgliedern das Konzertgebäude verlassen. Ein Mitmusiker wird von einem Gummi-Wurfgeschoss am Kopf getroffen und zieht sich eine Platzwunde zu. "Da wird einem schon mulmig", gesteht der 20-Jährige. Spätestens jetzt ist ihm klar, dass er nicht mehr in Hongkong bleiben kann. Die Uni Mannheim nimmt Kontakt mit ihren Gaststudenten auf und startet eine Rückholaktion. Zumal die Akademikerschmiede in Hongkong das Semester für beendet erklärt.
Die letzten Vorlesungen hört Malte Hinrichs in Deutschland via Internet, über das Online-Tool "Zoom" – ähnlich dem in China verbotenen Skype – können die Studenten den Dozenten sogar Fragen stellen. Aktuell bereitet sich der angehende Volkswirt auf die Klausuren vor. Die werden im Multiple-Choice-Modus "geschrieben". Dabei müsse man in der Ferne, so Hinrichs, derart schnell die richtige Antwort ankreuzen, dass "Googeln" nach der richtigen Antwort nicht möglich sei.
Die knapp vier Monate in Hongkong haben den jungen Mann verändert. "Da ist was passiert, da wurde Geschichte geschrieben. Und ich war mittendrin", sagt Hinrichs. Er denkt an Frankreich. Dass dort die sogenannten Gelbwesten wegen steigender Benzinpreise ihr Land zerstörten, zeige mit Blick auf Hongkong, "wie lächerlich das ist". Dort stünden Meinungsfreiheit und die Demokratie auf dem Spiel. Unsere Werte.
Zuletzt sei es in seinem ehemaligen Gastland ruhiger gewesen und die Gewalt zurückgegangen – insbesondere nach dem Sieg des Protestlagers bei den Regionalwahlen. Dennoch schwant Hinrichs für die Zukunft nichts Gutes. Er rechnet damit, dass es zu noch heftigeren Ausschreitungen kommen könnte, wenn Peking nicht einlenke. "Bisher hat China keine Anstalten gemacht, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen."