"Jede Aufbauphase ist schwierig", erklärt Jürgen Bernhardt (re.) zur Umstellung von der Betreuung minderjähriger Flüchtlinge auf eine intensivpädagogische Wohngruppe im Gespräch mit Sümeyya Jamal und Michael Danner. Foto: A. Portner
Von Angela Portner
Eppingen. "Jugendhilfe ist Mangelverwaltung", weiß Michael Danner. Er leitet die pädagogische Wohngruppe im ehemaligen Clearinghaus, das die Diakonische Jugendhilfe Heilbronn (DJHN) 2015 für die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern (UMA) eröffnet hatte. Nachdem die im vergangenem Jahr zunehmend ausblieben, hat man zu Beginn des Jahres dort eine intensivpädagogische Wohngruppe eingerichtet. Doch Personalmangel und komplizierte Zuständigkeiten bei der Finanzierung machen Mitarbeitern und Verwaltung das Leben schwer.
"In manchen Situationen fühlte ich mich total hilflos", sagt Sozialpädagogin Sümeyya Jamal, die bereits seit Gründung des Clearinghauses dabei ist. Die Arbeit mit den UMA erforderte zwar ein hohes Maß an kulturellen Verständnis und Einfühlungsvermögen, aber letztlich seien sie einfacher zu betreuen gewesen, als die Jugendlichen, die derzeit im Haus untergebracht sind. Diese kommen oft mit Mehrfachstörungen wie Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen und seien unfähig Grenzen zu akzeptieren.
Eine geringe Frustrationstoleranz mache es schwer, sie zu einem Mindestmaß an Selbstständigkeit und Hygiene zu motivieren. "Manche muss man nachts sogar zur Toilette bringen", sagt Jamal. Viele hätten eine Rundum- oder Einzelbetreuung nötig, doch dafür fehlt schlichtweg das Personal.
Jürgen Bernhardt, Geschäftsbereichsleiter für stationäre Angebote bei der DJHN, gibt unumwunden zu: "Die Belastung für die Mitarbeiter ist riesengroß." Laut den Sätzen des Landes stehen der Einrichtung 5,6 Vollzeitstellen zu. Die sollten die Versorgung einer Regel- und einer Intensivgruppe am Tag sowie den Nachtdienst sicherstellen. Das sei zwar nicht gerade üppig, aber im Idealfall machbar. Doch lange war eine Vollzeitstelle vakant. Krankheitsfälle und dringend notwendiger Zusatzbedarf hätten die Situation noch verschärft.
Die Tagessätze für die Unterbringung werden jedes Jahr mit der Jugendhilfe Heilbronn verhandelt. "Im Vergleich zu anderen Einrichtungen sind wir gut aufgestellt", weiß Bernhardt. Eine Herausforderung ist dagegen die Finanzierung individueller Zusatzleistungen, die für jeden Jugendlichen anfällt. Sie muss oft bei verschiedenen Trägern beantragt werden. Bis zur Entscheidung, die bis zu einem halben Jahr dauern kann, geht die DJHN in finanzielle und personelle Vorleistung. Dafür fallen jede Woche Überstunden an. Danner warnt: "Wir müssen aufpassen, dass wir unser Personal nicht verheizen."
Die absoluten Fallzahlen sind zwar zurückgegangen, aber die Situation in stationären Einrichtungen sei nicht zufriedenstellend. "Baden-Württemberg hat die schlechteste Versorgung bundesweit", sagt Danner. Von nur 7,6 Fällen pro 1000 Kindern und Jugendlichen im Alter unter 21 Jahren im Land spricht die Statistik bei der Inanspruchnahme von Vollzeitpflege und Heimerziehung (Quelle: Jahresbericht Hilfen zur Erziehung 2018 mit Zahlen aus 2014; neuere bundesweite Daten sind nicht verfügbar). Zum Vergleich: Bremen verzeichnete damals knapp 28, das Saarland 20, Brandenburg 17 Fälle.
Während hierzulande für Hilfen zur Erziehung und für seelisch behinderte Minderjährige im Jahr 2014 rund 360 Euro ausgegeben wurden, waren es in Rheinland-Pfalz fast 600 Euro und beim Spitzenreiter Bremen fast 1320 Euro. Verantwortlich für diese Kostendifferenz ist, dass Baden Württemberg seit Jahren auf den Ausbau ambulanter Hilfen setzt.
Im Vergleich zu 2017 stiegen diese Fallzahlen 2018 um neun Prozent, die stationären nur um ein Prozent. Dr. Ulrich Bürger vom Kommunalverband Jugend und Soziales Baden Württemberg bewertet das positiv: "So wird eine frühe Stigmatisierung vermieden."
Die Ursachen für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen reichen von Missbrauch und Gewalt über suchtkranke, sozial schwache und armutsbelastete Eltern bis hin zu Verwahrlosung. Für viele beginnt schon früh ein Teufelskreis, aus dem sie ohne Hilfe kaum herausfinden. Dafür bräuchten Wohngruppen wie die der DHJN eine noch bessere Vernetzung mit Ärzten, Psychologen und Therapeuten.
Ein einrichtungsübergreifender Pool, aus dem man Mitarbeiter für Krankheitsvertretungen ziehen könnte, ist angedacht, aber längst nicht in Sicht. Hilfreich könnten Ehrenamtliche sein, die Jugendliche zu Arztbesuchen begleiten oder mit ihnen Fahrräder reparieren. Auf politischer Ebene seien weitreichende Verbesserungen für die Jugendhilfe leider nicht in Sicht. Bernhardt: "Es bleibt ein Balanceakt."