Stefan Müller, Leiter des Mosbacher Stadtmuseums, präsentiert einen Band des „Mosbacher Volksblatts“. Die Anzeigen auf der Seite sind bereits eingescannt und werden ein Bestandteil der ersten reinen Online-Ausstellung des Museums. Foto: Noemi Girgla
Von Noemi Girgla
Mosbach. Das Ur-Analoge, nämlich Objekte aus einer längst vergangenen Zeit, in den digitalen Raum zu transferieren, ohne dabei Charme und Nostalgie einzubüßen – vor dieser Aufgaben stehen Museen nicht erst seit Beginn der Pandemie. "Dem Deutschen Museumsbund ist die Digitalisierung schon seit Jahren ein Anliegen", berichtet Stefan Müller, Leiter des Mosbacher Stadtmuseums.
Schon seit knapp vier Jahren arbeiten er und sein Team daran, dieses Anliegen umzusetzen. "Die Digitalisierung im Museum ist sinnvoll, aber kein Allheilmittel", stellt Müller fest. Man müsse sich sehr genau klarmachen, wo sie sinnvoll und vor allem auch leistbar sei und in welchem Bereich eben nicht. Denn eine gelungene Digitalisierung sei bei Weitem kein Selbstläufer. "Dafür braucht man Know-how, die notwendige Ausstattung, sprich: Software, und vor allem kluge Köpfe, die die Projekte auch umsetzen", meint er.
Müller sieht die Museen in einer Übersetzerfunktion. "Bei Ausstellungsstücken geht es immer darum, was die Objekte zu erzählen haben. Welche Geschichten sich hinter ihnen verbergen. Unsere Aufgabe ist es, sie zum Sprecher zu bringen." Normalerweise gelingt das durch Präsentationsweisen bei Ausstellungen; nun muss das Ganze in den virtuellen Raum tradiert werden. "Das Internet ist nicht für alle Objekte gleich gut geeignet", findet der Museumsleiter. "Manche Objekte leben von ihrer Aura, ihrer Wirkung, wenn man nahe an sie herangehen und sie von allen Seiten bestaunen kann. Man muss ihnen begegnen, sie ,schnuppern’ können", hält er fest.

Den Schritt in den digitalen Raum (wortwörtlich zu nehmen) hat das Stadtmuseum schon vor einer Weile gewagt. Auf der eigenen Internetseite wird der Besucher zu einem virtuellen Rundgang durch drei real existierende Räume eingeladen. Dabei bewegt er sich mittels Pfeilen auf zwei Etagen durch drei Ausstellungen: Druckkunst, Fayencen und Majolika-Keramik. "Die Clips sollen Lust auf mehr machen. Man kann die Objekte ranzoomen und aus der Nähe betrachten, aber es bleibt auch genug Interessantes für den realen Museumsbesuch übrig", erläutert Müller das Konzept. Des Weiteren bietet die (zurzeit geschlossene) Präsenzausstellung "Ansichtssache" einen virtuellen Stadtrundgang durch Mosbach.
Nun will man noch einen Schritt weitergehen. "Wir konzipieren momentan unsere erste reine Onlineausstellung. Und das mit einem wahren Schatz unseres Museums, der sich virtuell viel besser ausstellen lässt als in Präsenz", verrät der Volkskundler. "Wir verfügen über den nahezu kompletten Bestand des Mosbacher Volksblatts, der ersten Mosbacher Tageszeitung, die von 1892 bis 1936 erschien. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal", schwingt Stolz in seiner Stimme mit.
Unter dem Titel "Annonciren bringt Gewinn" (nein, kein Tippfehler, sondern ein Zitat aus dem ersten Band der Zeitungssammlung) soll die Ausstellung schon im April online gehen. Wie der Name schon ansatzweise verrät, befasst sie sich mit Mosbacher Zeitungsreklamen von vor 100 Jahren. "Damals war man davon überzeugt, dass die Zukunft der regionalen Geschäfte darin liege, in der Lokalzeitung Reklamen zu schalten", erklärt Müller. Und weiter: "In einer Präsenzausstellung kann man immer nur eine Seite in den Bänden zeigen. Bei der Onlineausstellung haben wir die Möglichkeit, die Inserate einzuscannen und dem Besucher so eine viel größere Anzahl zugänglich zu machen."
Ohne seine Mitarbeiterin Ursula Rauh wäre das nicht möglich, betont der Museumsleiter. Sie trägt das Material zusammen, sammelt, scannt und katalogisiert die Annoncen. Mit der "technischen Übersetzung", wie Müller es nennt, also der Gestaltung der virtuellen Ausstellung, wird ein externes Unternehmen beauftragt. "Dafür haben wir die Ressourcen nicht in Haus", erläutert er.
Müller sieht in der voranschreitenden Digitalisierung noch einen weiteren Vorteil: "Sie schützt die Objekte. Einmal eingescannt, kann ein altes Buch geschlossen bleiben. Wer den Inhalt beispielsweise für eine wissenschaftliche Arbeit braucht und anfragt, kann mit dem Material arbeiten, ohne das alte Papier einem Risiko auszusetzen."
"Ein Potpourri an purem Leben"
Für Müller sind die Zeitungsreklamen aber weit mehr als "altes Papier". "Sie sind ein Potpourri an purem Leben. Sie spiegeln das pralle Leben der Stadt Mosbach vor 100 Jahren wider." Adressen oder Telefonnummern, wie sei heute bei Anzeigen üblich sind, findet man erst ab den 1930er-Jahren. Was heute seltsam anmuten mag, war damals Alltag. "Da gab es das Schweinspulver beim Kapferer, Zitronendrops und Eisbonbons sowie den ,National-Keks’ beim Lichdi und die Jauchepumpe beim Kaufmann. Nostalgie und Charme vereinen sich in den Annoncen mit Lebenswirklichkeit – und wir übersetzen nun diese ur-analogen, gedruckten Anzeigen, das Neuste der damaligen Zeit, ins Digitale, in die heutige Selbstverständlichkeit", schwärmt der Museumsleiter.
Etwa 100 Exponate soll die Onlineausstellung letztlich umfassen. Für Müller ist sie ein Paradebeispiel für angewandte Digitalisierung. Eine Frage bleibt jedoch offen: Worum es sich bei Lichdis National-Keks handelt, konnte Müller bislang noch nicht herausfinden.