Von Stefan Hagen
Scheidegg/Rhein-Neckar. Noch bis Ende der 1960er Jahre wurden Kinder, die an Tuberkulose erkrankt waren, in sogenannten Heilstätten untergebracht. Dort lebten sie – teilweise über mehrere Jahre – von ihren Eltern und Geschwistern getrennt. In der Lungenheilstätte Scheidegg im bayerischen Hochallgäu wurden Klein- und Schulkinder mit der Diagnose Lungen- und Knochen-Tuberkulose behandelt – darunter auch Kinder aus der Rhein-Neckar-Region.
Die Wissenschaftlerin und Buchautorin Carola Otterstedt engagiert sich seit Jahren für "Die Kinder von Scheidegg", wie ihre Website zur Erinnerungskultur heißt. Jetzt sucht sie weitere Zeitzeugen aus der Metropolregion Rhein-Neckar, die wie Carola J. – die 1956 an der Militärtuberkulose erkrankte – einst in Scheidegg behandelt wurden.
Verhaltensforscherin Carola Otterstedt. Fotos: privat"Durch die Erkrankung war ich lange und viel von Zuhause weg und habe als Kind eigentlich meine eigene Familie nie richtig kennengelernt. Mit neun Monaten kam ich zunächst für lange Zeit in die Uni-Klinik Heidelberg, wo ich allein in einem Zimmer lag. Dort wurde mir das Haar abgeschnitten und leider auch mein Stofftier, der Mecki, weggenommen", berichtet Carola J.
In den Jahren 1961 bis 1963 war das Mädchen dann zweimal zur Behandlung in Scheidegg, schließlich wurde sie als geheilt entlassen. Ihre Geschichte, die auch von der Entfremdung von ihrer Familie handelt, findet sich neben vielen weiteren Berichten auf der Website von Carola Otterstedt.
"Als Kulturwissenschaftlerin und Verhaltensforscherin arbeite ich seit Jahren an der historischen Dokumentation über Kinder, die bis Ende der 1960er Jahre in dieser Kinderheilstätte im Hochallgäu gelebt haben", sagt Otterstedt. Mit den damals eingeschränkten Mitteln der medizinischen Behandlung blieben die Kinder über Jahre in der Klinik. Die an Knochen-Tuberkulose erkrankten Patienten lagen sogar mehrere Jahre im Gips. Nicht wenige Kinder mit Lungen-Tuberkulose benötigten wiederholt jahrelange Aufenthalte in der Klinik. Um Heimweh zu vermeiden, wurde ihnen gesagt, dass sie nicht mehr zu ihren Familien zurückkehren, sondern an diesem Ort bleiben würden, beschreibt die Verhaltensforscherin die Situation der Kleinen.
Fotos: privat"So haben viele dieser Patienten ihre frühe Kindheit in einer Klinik an einem weit entfernten Ort verbracht", sagt Otterstedt. Ein Ort, der es vielen Kindern ermöglicht habe, mit der Krankheit zu leben und sie auszuheilen. "Aber auch ein Ort, der die Kinder von ihren Familien entfremdete", betont die Wissenschaftlerin. Verwaiste Eltern und Geschwister seien daheim zurück geblieben, während die Kinder in Scheidegg in großen Gruppen aufgewachsen seien und durch die lange Verweildauer in der Klinik ein neues Zuhause gefunden hätten.
"Viele dieser Kinder kamen später in ihre Familien zurück, hatten aber bis heute keine Chance, ihre Kindheitserlebnisse mit anderen auszutauschen", weiß die Wissenschaftlerin. Die vielen Gespräche mit ehemaligen Patienten hätten gezeigt, dass die Klinik für sie ein Zuhause war, welches sie im Leben nachhaltig, auch positiv beeinflusst habe. "Es gelingt mitunter, dass ich ehemalige Patienten heute wieder zusammenbringen kann."
Info: Zeitzeugen können die Wissenschaftlerin per Mail unter carola.otterstedt@gmx.de kontaktieren. Zeitzeugenberichte zu Aufenthalten in Scheidegg findet man im Internet unter https://die-kinder-von-scheidegg.jimdofree.com.