"Fahrer und System haben versagt"
Richterin und Sachverständiger kritisierten Lkw-Hersteller Daimler - Urteil soll am 19. Dezember verkündet werden

Zwei Tote und zehn Verletzte forderte der Unfall am 9. Juni 2017 bei Sandhofen. Foto: Priebe
Von Alexander Albrecht
Mannheim. Dass im Straßenverkehr wenige Sekunden über Leben und Tod entscheiden können, ist eine viel bemühte Phrase. Wie richtig sie aber ist, wird allen Beteiligten und Zuhörern am Montag im Mannheimer Amtsgericht brutal vor Augen geführt. Tag zwei im Prozess gegen einen 33-Jährigen, der am Nachmittag des 9. Juni 2017 auf der Autobahn A6 bei Sandhofen unter Zeitdruck mit seinem Sattelzug und 85 "Sachen" auf dem Tacho gegen ein Stauende gekracht ist.
In einem Auto sterben eine Mutter (55) und ihre 31 Jahre alte Tochter aus dem Raum Ulm. Der Vater am Steuer, 56, erwacht nach einem Schädel-Hirn-Trauma erst im Oktober aus dem Koma.
Zwar müssen die geplanten Plädoyers und das Urteil auf Mittwoch, 19. Dezember, vertagt werden. Doch gelingt es dem Schöffengericht unter dem Vorsitz von Gabriele Schöpf, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Entscheidend zur Aufklärung trägt dabei ein Ingenieur des Lkw-Herstellers Daimler bei, der die Software für die technischen Notbremsassistenten entwickelt.
Er schließt anhand von Protokollen seiner Kollegen von der Unfallforschung aus, dass der Fahrer das System ausgeschaltet hat. "Höchstwahrscheinlich" hätten die Radarstrahlen des Geräts die stehenden Fahrzeuge "nicht gut genug" erkannt. Deshalb habe die Technik trotz vorheriger akustischer wie optischer Warnung an den Fahrer keine Notbremsung eingeleitet, mit der sich der Unfall vermeiden oder zumindest die Aufprallgeschwindigkeit hätte verringern lassen.
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Der Ingenieur gesteht grundsätzliche Probleme im System, das ein Stauende in den allermeisten Fällen auf den Radar bekomme, das Risiko jedoch nicht immer richtig einschätze. "Wir sprechen ja bewusst von Assistenten, die den Fahrer nicht aus seiner Verantwortung lassen", sagt der Entwickler, und immerhin könne die Technik rund 80 Prozent möglicher Unfälle verhindern.
Richterin Schöpf überzeugen die Argumente nicht. "Wenn ich den Föhn in die Steckdose stecke, gehe ich ja auch davon aus, dass meine Haare trocken werden und nicht, dass er mich grillt", sagt sie. "Der Bremsassistent ist jedenfalls kein Verkaufsrenner", meint Schöpf. Zumal sie sich zuvor von dem Ingenieur hat erklären lassen, dass sich dieses System und auch der elektronische Abstandsregeltempomat nach einer Optik-Akustik-Warnung alle 20 Millisekunden aktualisiert, also die Distanz zum Vordermann und dessen Tempo neu berechnet.
Der Unfallsachverständige spricht in seinem Gutachten von einem Systemversagen. Es gebe für das Unglück keine andere plausible Erklärung. Versagt habe aber auch der Fahrer. "Er hat eine Reaktionszeit von 3,5 Sekunden verstreichen lassen, das entspricht 40 Meter Bremsweg", hält der Sachverständige dem Angeklagten vor.
Der ist eigentlich gestraft genug. Hemmungslos weint der 33-Jährige, als die Richterin die Krankenakte des lebensgefährlich verletzten Autofahrers verliest, der bei dem Unfall Frau und Tochter verloren hat. Der 56-Jährige wird durch eine Sonde ernährt, ist schwerst pflegebedürftig und kann sich nur durch Blinzeln verständigen.
Mit leiser, tränenerstickter Stimme erzählt sein 28-jähriger Sohn, der als Nebenkläger auftritt, wie ihm der Verlust der Schwester nachgehe, die schwanger gewesen sei. Und dass er seine eigene Nachwuchsplanung verschoben hat, "weil mein Vater jetzt an erster Stelle steht und wir nicht wissen, wie es mit ihm weitergeht." Wie beim Prozessauftakt will sich der Angeklagte bei ihm entschuldigen - und erneut nimmt der 28-Jährige die Geste zwar zur Kenntnis, aber nicht an. Dazu hätte der Lkw-Fahrer lange vor der Verhandlung Zeit gehabt, sagt der junge Mann verbittert.
Der Unfallverursacher kann sich das Unglück nicht erklären, vielleicht habe er vor dem Zusammenprall etwas im Rückspiegel beobachtet und sei dadurch abgelenkt gewesen. Der Berufskraftfahrer hat mehrere Wochen in therapeutischen Kliniken zugebracht, wo ihn Ärzte unter anderem wegen schwerer depressiver Episoden und quälenden Erinnerungen an den Unfall ("Flashbacks") behandelten. Den Medizinern berichtete der 33-Jährige, Angst vor dem Gefängnis und der Konfrontation mit den Angehörigen der Unfallopfer zu haben. Und er habe sich gefragt, warum nicht er gestorben sei.
Früher arbeitete er als Paketfahrer, verlor seinen Führerschein und musste zur Medizinisch Psychologischen Untersuchung. Damals berichtete er von dem Zeitdruck, dem sich die Fahrer ausgesetzt sehen. "Das scheint mir kein persönliches, sondern ein generelles Problem in der Branche zu sein", seufzt Richterin Schöpf. Der Arbeitgeber des 33-Jährigen, ein Mainzer Speditionsunternehmen, steht zu ihm und lässt ihn wieder Lkw fahren. "Er ist sehr zuverlässig und zuvorkommend. Es gibt keinen Grund, ihn fallen zu lassen", sagt sein Chef.