Die Angeklagten betrieben schwunghaften Handel mit Kurzzeit-Kennzeichen. Foto: RNZ-Archiv
Von Alexander Albrecht
Rhein-Neckar. Das war deutlich. "Wo war denn die Spitze des Landratsamts? Und wo war das Regierungspräsidium (RP) Karlsruhe als Aufsichtsbehörde?", rief der Vorsitzende Richter Christian Mühlhoff in den Saal des Heidelberger Landgerichts, als er Ende September im Skandal um den Betrug mit Kurzzeitkennzeichen vier private Schilderhändler verurteilte. Rhetorische Fragen, die vorwurfsvoll klangen.
Denn wie konnte es sein, dass ein Heidelberger Unternehmer mit mehreren Briefkastenfirmen für Kfz-Dienstleistungen in der Wieslocher Zulassungsstelle ein elektronisches Kundensystem installieren und steuern konnte, durch das dubiose Firmen in der ganzen Republik auf Basis nichtsahnender "Antragsteller" jahrelang mit Tausenden Kurzzeitkennzeichen versorgt wurden? Wie war es möglich, dass dieser Mann von zwei ehemaligen Führungskräften des Amts für die Schilder einen Mengenrabatt erhielt, wohlgemerkt auf gesetzlich vorgeschriebene Gebühren?
Besonders kritisierte Mühlhoff neben der Zulassungsstelle das Regierungspräsidium. Dieses habe zwar Weisungen erteilt und gefordert, dass die Kunden persönlich und mit Originaldokumenten erscheinen müssten. "Doch, und das ist fast noch schlimmer, hat offenbar niemand überprüft, ob die Vorgaben auch eingehalten wurden", sagte der Richter. War das wirklich so?
Eine Sprecherin des Regierungspräsidiums teilte der RNZ mit, man habe bereits 2009 und in den Folgejahren Weisungen erteilt. Diese seien monatlich überprüft worden. Interessant ist: Die Vorgaben waren laut RP explizit an das Landratsamt adressiert, nicht (nur) an die Zulassungsstelle. Ebenso erstaunlich: Obwohl das Regierungspräsidium sowie ab 2010 auch die RNZ und andere Medien immer wieder auf Missstände aufmerksam machten, dauerte es bis Mai 2014, ehe die Zulassungsstelle von Polizisten und Staatsanwälten durchsucht wurde, eine zweite Razzia erfolgte am 19. November desselben Jahres.
Eine Woche später meldete sich das baden-württembergische Verkehrsministerium zu Wort. Laut der Mitteilung hatte es gemeinsam mit dem RP schon nach der ersten Razzia den Rhein-Neckar-Kreis aufgefordert, Kurzzeitkennzeichen nur noch nach Vorlage von Original-Ausweisen zuzuteilen, um einen weiteren Missbrauch zu verhindern.
Bei einer unangekündigten Kontrolle des Regierungspräsidiums habe es keinen Grund zur Beanstandung gegeben. Auch die Zahl der in dem elektronischen Verfahren zugeteilten Schilder habe sich um rund 90 Prozent reduziert. Inzwischen bestünde aber der Verdacht, so schrieb das Ministerium Ende November 2014, dass die Aufsichtsbehörden über die Einhaltung von Weisungen getäuscht worden seien.
Deshalb habe man gemeinsam mit dem RP veranlasst, dass der Rhein-Neckar-Kreis das System "sofort und vollständig" einstellt. Zudem wurde dem Landratsamt "dringend angeraten", die beiden Wieslocher Führungskräfte nicht mehr in der Zulassungsstelle einzusetzen, bis die Vorwürfe geklärt sind.
Daraufhin zog auch der Landkreis Konsequenzen und stoppte das Online-Verfahren, wie der zuständige Dezernent Stefan Hildebrandt damals der RNZ sagte. In der Zwischenzeit hatte das Landratsamt ein Gutachten in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse Landrat Stefan Dallinger später zum Anlass nahm, beide Führungskräfte von der Zulassungsstelle abzuziehen, eine davon vom Dienst zu suspendieren. Zudem löste er die bis zu 30-köpfige "Briefgruppe" in Wiesloch auf, die ausschließlich die Anträge des Heidelberger Unternehmers abarbeitete. Dallinger sagte der RNZ, es sei bis zum Bekanntwerden der Ermittlungen jeder Schritt mit dem Regierungspräsidium abgesprochen worden. Man habe deshalb nie das Gefühl gehabt, etwas Unrechtes zu tun. Möglicherweise, das ist jedoch nur eine Vermutung, hat Dallinger als Chef einer 2000-Mitarbeiter-Verwaltung von den Weisungen des RP nichts oder nicht alles mitbekommen beziehungsweise den Aussagen "seiner" Bediensteten vertraut. Zumal die Staatsanwaltschaft auch gegen einen ehemaligen Spitzenbeamten des Rhein-Neckar-Kreises ermittelt.
Andererseits stellt sich die Frage, warum Dallinger das Thema nach mehreren kritischen Medienberichten deutlich vor den Razzien nicht früher zur Chefsache gemacht hat. Und: Weshalb hat das RP, das nach eigenen Angaben ja schon 2009 Kenntnis von Missständen bei der Zulassungsstelle hatte, nicht entschlossener eingegriffen und das elektronische Verfahren in Wiesloch gemeinsam mit dem Ministerium gestoppt?
Antworten auf diese Fragen könnte der Prozess gegen die beiden Führungskräfte und den Heidelberger liefern. Die Staatsanwaltschaft arbeitet an der Anklage gegen die drei. Ermittler sprechen von einem der größten Korruptionsskandale in der Geschichte Nordbadens.