Ein Pilzsammler hatte die Knochen im September 2017 in einem Wald bei Viernheim entdeckt. Sie lagen in einer Wickeltasche. Polizisten durchkämmten daraufhin das Gelände auf der Suche nach Spuren. Foto: Priebe
Von Alexander Albrecht
Darmstadt/Viernheim. Dass Jasmin H. psychisch schwer krank ist, bestreitet niemand. Dass die Beschuldigte aber im Frühjahr 2017 ihren erst wenige Wochen alten Sohn Michael getötet und das Baby in einer Wickeltasche im Wald bei Viernheim abgelegt hat, daran meldet ihre Verteidigerin Claudia Lorz-Felten erhebliche Zweifel an. Das Plädoyer der Anwältin beeindruckt die Strafkammer des Landgerichts Darmstadt am Mittwochnachmittag offenbar so sehr, dass sich die Richter mehr Zeit für ihre Entscheidung lassen wollen.
Normalerweise muss Volker Wagner zehn Tage nach dem letzten Wort der Beschuldigten - Jasmin H. sagt nichts - das Urteil verkünden. Doch greift der Vorsitzende Richter zu einem juristischen Trick und steigt wieder in die Beweisaufnahme ein. Beim nächsten Verhandlungstag am 19. Februar, 11.30 Uhr, will Wagner "irgendein Dokument" verlesen und nachmittags das Urteil sprechen.
Tatsächlich sind in dem Fall noch einige Fragen offen, wie auch Oberstaatsanwalt Robert Hartmann einräumen muss. So konnte weder der Vater des kleinen Michael ermittelt werden, noch steht die Todesursache fest. Eine Frankfurter Rechtsmedizinerin hat die am 9. September 2017 in dem Waldstück entdeckten Knochen analysiert und weder Brüche noch sonstige Spuren von Gewalt festgestellt. Am wahrscheinlichsten ist aus ihrer Sicht Verdursten oder Verhungern, also eine Vernachlässigung. Infrage komme jedoch auch eine Krankheit wie zum Beispiel eine Lungenentzündung.
Ebenso unklar ist, wo Michael gestorben ist. Dennoch hält Hartmann die Mutter "strafrechtlich zweifelsfrei verantwortlich" für den Tod des Säuglings. Dabei stützt sich der Staatsanwalt auf eine Reihe von Nachrichten der 32-Jährigen bei Facebook. Einem Kumpel schreibt Jasmin H., das Kind "verrecken" zu lassen, um wieder Zeit für ihn zu haben. Ein mögliches Tatmotiv sieht Hartmann auch darin begründet, dass sie Michael für den Verlust ihrer Tochter habe opfern wollen.
Das Familiengericht hatte der Mannheimerin 2014 das Sorgerecht für die heute Zehnjährige entzogen. Weil ihre Wohnung verdreckt war, sie Drogen genommen haben soll, sich der Zusammenarbeit mit den Behörden entzog und eine psychologische Behandlung ablehnte. Fazit des Familiengerichts: Das Kindeswohl sei akut gefährdet, eine Schädigung des Mädchens vorauszusehen.
Irgendwann in dieser Zeit muss Jasmin H. vergewaltigt worden sein. Der Täter sei verurteilt worden, teilt Richter Volker Wagner mit. Einen Zusammenhang zwischen dem Kindesentzug und Michael gebe es nicht, herrscht die Beschuldigte den Staatsanwalt an. "Das ist doch Schwachsinn!" Auf Nachfrage Wagners verneint sie gar, dass das Baby tot sei. Auch deshalb hält Hartmann die dauerhafte Unterbringung in der forensischen Psychiatrie für dringend geboten.
Der Todeszeitpunkt liegt laut Staatsanwalt zwischen dem 12. und dem 20. April 2017. Am 11. April war die Mutter noch in der Wohnung eines Bekannten in Ludwigshafen-Friesenheim gesehen worden, neun Tage später kam sie bei einem Kumpel in Weinheim unter - ohne Baby. Anwältin Lorz-Felten hält im Gegensatz zum Staatsanwalt auch einen plötzlichen Kindstod für möglich, der frühestens vier Wochen nach der Geburt eintritt. Michael kam am 22. März 2017 zur Welt. "Er könnte am 29. Tag nach der Geburt noch gelebt haben", sagt die Anwältin unter Berufung auf die Berichte von zwei Rechtsmedizinerinnen. Auch könnte der ebenfalls psychisch kranke und drogenabhängige Kumpel in Friesenheim das Kind getötet haben. Er sei nach dem Besuch seiner Betreuerin am 11. April vorübergehend verschwunden. Lorz-Felten verweist auch auf einen Zeugen, der aussagte, dass die Wickeltasche in dem "lichten Waldstück" unmöglich monatelang unentdeckt geblieben sein könnte.
Die Beschuldigte saß aber bereits seit Juni wegen Diebstahlsdelikten in Untersuchungshaft. Aufgrund all dieser mutmaßlichen Ungereimtheiten fordert die Verteidigerin einen Freispruch. Das Gericht solle allerdings einen Betreuer bestellen, der für die psychotherapeutische Hilfe ihrer Mandantin sorge. Jasmin H. befindet sich in einer Klinik für forensische Psychiatrie. Die Anstaltsleiterin berichtet, dass sie die Einnahme von Medikamenten ablehne, was ihre schizophrene Erkrankung verschlimmern könne. Außerdem soll sie sich auf der geschlechtergemischen Station um ungeschützten Sex mit männlichen Patienten bemüht haben, um wieder Mutter zu werden. Das sei verhindert worden.