An der Staatlichen Schule für Blinde und Sehbehinderte in Ilvesheim wird mit großem Eifer Goalball gespielt. Foto: Pilz
Von Marion Gottlob
Ilvesheim/Rhein-Neckar. Ein Foul im Frauen-Fußball war dafür verantwortlich, dass das Schicksal von Jessica Bahr (30) eine andere Richtung nahm. Sie musste alle Pläne ändern und sofort auf das Studienfach "Sport" verzichten. "Damals konnte ich das Foul nicht verzeihen", sagt sie, "aber mit dem zeitlichen Abstand denke ich, dass mir nichts Besseres passieren konnte". Heute ist sie Lehrerin an der Staatlichen Schule für Blinde und Sehbehinderte in Ilvesheim und außerdem Co-Trainerin der Nationalmannschaft im "Goalball", einem Ballspiel für Blinde.
Eigentlich stand Jessica Bahr eine Karriere als Leistungssportlerin offen: Sie ist in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen. Ihr großer Bruder und ihr Zwillingsbruder spielten Fußball. Das wollte Jessica auch. Ihr Vater war dagegen: "Das ist nichts für Mädchen." Sie nervte ihn so lange, bis sie mitspielen durfte.
Ein Glücksfall, denn sie verfügte über eine natürliche Begabung für den Sport. Beim VfL Sindelfingen spielte sie in der Bundesliga. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Studium der Blindenpädagogik mit dem Hauptfach "Sport": "Ich hatte im Fernsehen eine Sendung über Blinde gesehen. Ich wusste sofort, dass ich das machen wollte." Zunächst stand ein Grundstudium für Hauptschul- und Realschulpädagogik in Ludwigsburg auf dem Plan. Dann kam der Schicksalsschlag: Acht Tage vor Beginn des ersten Semesters passierte das Foul. Bahr erlitt eine Knöchelverletzung, die im Laufe der Jahre 13 Mal operiert wurde. Sie reagierte und wechselte auf die Fächer "Deutsch" und "Geografie" - die Vorlesungen besuchte sie monatelang auf Krücken.
Jessica Bahr spielte früher für den VfL Sindelfingen in der Fußball-Bundesliga der Frauen. Foto: mio
Nach dem Grundstudium wechselte Bahr an die Pädagogische Hochschule Heidelberg und studierte Sonderpädagogik: "Ich war in der zehnten Klasse ein einziges Mal in Heidelberg gewesen und habe mich sofort verliebt. Das ist die Stadt meines Herzens." Für ihre Zulassungsarbeit kontaktierte sie die Schloss-Blindenschule in Ilvesheim und erhielt bald einen Lehrauftrag für die Sport-AG.
"Bei der ersten Begegnung mit blinden Schülern habe ich erst gar nicht gemerkt, dass einer der Schüler blind war - so sicher hat er sich in der Sporthalle bewegt", erinnert sie sich. Später etablierte sie als Referendarin das Triathlon-Projekt an der Schule neu. "Die Schulleitung unterstützt solche Projekte", sagt sie begeistert.
Seit 2014 ist Jessica Bahr Lehrerin für Sport, Geografie und Gemeinschaftskunde an der Blindenschule. Ein zentrales Thema ist die Sportart "Goalball", die man nicht mit "Blinden-Fußball" verwechseln darf. Goalball wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich für blinde Kriegsheimkehrer entwickelt: Es gibt ein Spielfeld von neun mal 18 Metern und zwei Tore mit einer Breite von jeweils neun Metern.
In jedem Tor knien drei Spieler mit einer Dunkelbrille, sodass keiner etwas sehen kann. Jeder Spieler bleibt fest in seinem Torbereich und versucht, nach dem Gehör den 1,25 Kilogramm schweren Goalball ins Tor der gegnerischen Mannschaft zu werfen. Es ist ein Spiel, das nicht nur technisches Können, sondern auch Teamgeist und taktisches Geschick erfordert. Bahr hat eine Schul-Mannschaft für Goalball gegründet. Bei den deutschlandweiten Schul-Meisterschaften kam die Mannschaft sofort auf den zweiten Platz. In den Folgejahren 2017 und 2018 wurde man sogar Sieger bei "Jugend trainiert für Paralympics". Mit einer neuen Vereins-Mannschaft kam Jessica Bahr nun auf Anhieb bei den Deutschen Jugend-Meisterschaften auf einen stolzen zweiten Platz.
Unter der Woche ist sie die normale Lehrerin "Frau Bahr" - beim Training und auf den Reisen zu den Wettkämpfen wird sie zu "Jess". Kürzlich saß sie sogar persönlich am Steuer für die Fahrt zu einem Vorbereitungsturnier nach Litauen. "Nach der Rückkehr habe ich einfach erst einmal geschlafen", erzählt sie. Andere Sportreisen führten nach Italien und Ungarn, demnächst geht es nach Tschechien, Finnland und Dänemark. Und im Sommer auch nach Australien zur Jugend-WM.
Und wie fühlt sie sich als Sehende unter Blinden? "Ich schätze den schwarzen Humor", sagt sie. So kann es durchaus passieren, dass ein blinder Mensch nach einem Malheur eiskalt sagt: "Ich habe nichts gesehen." Bahr achtet auf einen normalen Umgang, ohne falsches Mitleid. Der Sport ist für die blinden und sehbehinderten Jugendlichen eine große Chance: Sie lernen, dass sie Ziele erreichen können. Sie lernen aber auch, zu gewinnen und zu verlieren. So hat sich ein ängstlicher Schüler allmählich in einen selbstbewussten jungen Mann verwandelt. Die Mutter eines anderen Schülers dankte Jessica Bahr unter Tränen für ihr Engagement.
In ihrer Freizeit engagiert sich Jessica Bahr mit ihrem Blog "jederschrittzählt" für die Ökologie. Sie restauriert gerade ihren VW-Käfer von 1972 und hat ihn komplett auseinandergenommen: "Das macht wirklich Spaß." Sie wandert gerne und hat die Alpenüberquerung vom Tegernsee nach Sterzing absolviert. Gerne würde sie auch die frühere deutsch-deutsche Grenze abwandern. Demnächst wird sie ihre Promotion in Angriff nehmen. Ihr Fazit: "Ich möchte mit niemandem tauschen - ich bin glücklich."
Information: Am 13. Dezember findet auf dem Gelände der Schloss-Blindenschule in Ilvesheim der Landes-Wettbewerb für "Jugend trainiert für Paralympics" statt.