Hedwig Horch (82; l.) sprach beim Abendbrot Annelore Al-Ghazal an - ihre aus den Augen verlorene, zwei Jahre ältere Schwester. Foto: Alfred Gerold
Von Alexander Albrecht
Mannheim. Annelore drückt Hedwigs Hand ganz fest. Tränen kullern über die Gesichter der beiden. Tränen der Freude, der Rührung. "Jetzt hemma uns widda, mir zwee", sagt Hedwig leise. Ihre Augen leuchten. Die älteren Damen hatten nicht geglaubt, sich noch einmal wiederzusehen.
Es muss das Jahr 1976 gewesen sein: Mit dem Tod von Mao Zedong endet in China die Kulturrevolution, und Uli Hoeneß schießt einen Elfmeter in den Belgrader Nachthimmel. Damals trafen sich Hedwig Horch und Annelore Al-Ghazal auf dem Hirschhorner Campingplatz. Und danach nicht mehr. Bis zum Nikolaustag vor zweieinhalb Wochen.
Annelore und ihr Mann Saadi, ein Iraker, sind einen Tag vorher im Joseph-Bauer-Haus in Mannheim-Käfertal eingezogen. Der Abschied aus ihrer Wohnung in Hirschhorn war ihnen schwer gefallen; zuvor hatten sie jahrzehntelang in Viernheim gelebt, wo sie auch einen Tante-Emma-Laden führten. Nun also ein Seniorenheim. "Wir haben es zu Hause einfach nicht mehr alleine geschafft", seufzt Annelore.
Die Wehmut hält nicht lange an. Annelore erhält eine Hauptrolle in einem wunderbaren und echten Weihnachtsmärchen. Am Abend des 6. Dezember begibt sich Hedwig an den Abendbrottisch ihrer Wohngruppe. Sie ist schon seit knapp zwei Jahren in dem Heim und sitzt im Rollstuhl. Lange, sehr lange, schaut sie zu der neuen Mitbewohnerin hinüber.
"Die kenne ich", erzählt Hedwig einer Tischnachbarin - und fasst sich ein Herz. Sie spricht die Frau an und fragt nach ihrem Namen. "Ich heiße Annelore. Annelore ohne ,H’". Jetzt ist sich Hedwig ganz sicher: "Dann bin ich deine Schwester." Sie habe Gänsehaut bekommen, erinnert sich Annelores Tochter Hiam, die in diesem Moment mit dabei war. Die Frauen fallen sich in die Arme.
"Also, ich bin seit 26 Jahren in der Altenpflege tätig und habe schon fast alles erlebt - aber so was ...": Die Stimme von Bernd Nauwartat stockt. Immer und immer wieder schüttelt der Heimleiter den Kopf. "Einfach krass, unglaublich", rutscht ihm noch raus. Zumal ein weiterer Zufall die Schwestern zusammenführte. "Wir haben hier 100 Bewohner. Dass sie auch noch in derselben Wohngruppe landen, ist eine glückliche Fügung", sagt Nauwartat, der in der Region als eine der Stimmen des Mannheimer Capitols bekannt ist.
Seit dem schicksalsträchtigen Tag sind die 84-jährige Annelore und Hedwig (82) unzertrennlich. Und verbringen fast jede freie Minute miteinander. "Mir hewwe so viel zu erzähle", sagt Annelore und greift nach einem Taschentuch. Doch warum haben sie sich 40 Jahre lang nicht gesehen? Noch dazu, wo doch Hedwig in Mannheim wohnte und Annelore in Viernheim beziehungsweise Hirschhorn - keine Weltreise.
Die Antwort auf diese Frage ist kompliziert. Es soll keinen Streit, keinen Ärger gegeben haben, beteuern die Schwestern. Woran lag es dann? Annelore ist seit knapp 50 Jahren verheiratet, Hedwig aber trat ein zweites Mal vor den Traualtar.
Und wechselte den Nachnamen: von Schmitz auf Horch. Die beiden sahen sich nicht einmal bei der Beerdigung ihrer Schwester Margot im Jahr 2008, weil Hedwig krank war.
Annelore schrieb immer wieder Briefe und Postkarten - doch die kamen alle zurück. Sie hatte jeweils den Nachnamen "Schmitz" angegeben; die Adresse stimmte ebenso nicht mehr wie die Telefonnummer. "Meine Schwester ist tot", dachte Annelore irgendwann. Vergessen konnte sie Hedwig freilich nie.
Vor allem in den Nächten tat es weh. "Da kamen die Gedanken." Gab es denn sonst keine Familienfeste, keine runden Geburtstage oder Hochzeiten, bei denen man sich über den Weg hätte laufen können?
"Das hat sich alles auseinanderentwickelt", sagt Hedwig, deren Leben wohl nicht ganz leicht war. Was die Schwestern eint, sind die Erinnerungen. Die Kindheit in Mannheim. Heiligabende bei der Großmutter. Die Zeit, als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückehrte oder die Mutter früh einem Krebsleiden erlag. "Nun wollen wir hier noch ein paar schöne Jahre haben und uns verwöhnen lassen", sagt Annelore und strahlt.
Ein Neuanfang im Spätherbst ihres Lebens. An dieser Stelle wäre die Geschichte eigentlich zu Ende. Nauwartat fragt die Schwestern nebenbei nach dem Vater - und erfährt, dass dieser wieder geheiratet hatte. Die Stiefmutter von Annelore und Hedwig lebt noch. Sie ist inzwischen 97.
Nauwartat greift zum Hörer. Bekommt die Mitteilung, dass die hochbetagte Dame in einem anderen Mannheimer Seniorenheim untergebracht ist. "Da fahren wir mal hin, ich organisiere einen Transport", ruft der Heimleiter freudig. Aber wahrscheinlich erst Anfang nächsten Jahres. Jetzt wollen Annelore und Hedwig erst einmal Weihnachten feiern. Gemeinsam.