Das Foto zeigt Anna und Carl Reiß auf ihrer Reise durch Indien. Foto: Gerold
Von Olivia Kaiser
Mannheim. Sie reisten zusammen um die Welt, waren großzügige Kunst- und Kulturmäzene. Ihre Villa wurde zum gesellschaftlichen Epizentrum der Stadt, der sie nach ihrem Tod ihr gesamtes Vermögen vermachten: die Geschwister Anna und Carl Reiß. Sie prägten die Stadtgeschichte wie nur wenige ihrer Zeitgenossen in der Ära zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1870 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Mannheim entwickelt sich zur pulsierenden Großstadt, Wasserturm, Rosengarten und Industriehafen werden erbaut und die elektrische Straßenbahn nimmt ihren Dienst auf.
"Für Mannheim war das ein wahrhaft goldenes Zeitalter", erklärt Andreas Krock, wissenschaftlicher Sammlungsleiter der Reiss-Engelhorn-Museen. Dieser Epoche widmet das Haus mit "Belle Époque" eine Ausstellung, deren Kurator Krock ist. Daher hat er sich eingehend mit dem illustren Geschwisterpaar beschäftigt.
Andreas Krock, der wissenschaftliche Sammlungsleiter der Reiss-Engelorn-Museen . Foto: vaf
Ihr Vater Friedrich Reiß lässt sich, bereits gut betucht, 1831 aus Karlsruhe kommend in Mannheim nieder. Das Vermögen stammt aus der väterlichen Wagenfabrik, Friedrich Reiß war Hofsattlermeister. "In Mannheim erhoffte er sich mehr wirtschaftliches Glück", so Krock. Durch die Industrialisierung und die Entwicklung zum Schifffahrts- und Handelszentrum ergeben sich lukrative Möglichkeiten. Tatsächlich macht Reiß mit dem Handel von Holz, Tabak und Kolonialwaren ein Vermögen. Er ist Mitbegründer der Badischen Anilin und Sodafabrik (BASF) – und von 1849 bis 1852 Mannheims Oberbürgermeister.
Seine drei Kinder profitieren vom Reichtum der Familie. Anna wird 1836 geboren, es folgen Wilhelm (1838) und Carl (1843). "Wilhelm bleibt aber etwas außen vor, da er Mannheim den Rücken kehrte", berichtet Krock. Er begibt sich 1868 auf mehrjährige Expeditionstour nach Südamerika und zieht nach seinen Reisen auf ein Schloss in Thüringen. "Doch das Verhältnis zu seinen Geschwistern war augenscheinlich gut, Anna erledigte seine Korrespondenz und katalogisierte seine Mitbringsel aus Südamerika", erzählt der Kurator. Einige dieser Exponate befinden sich heute im Reiss-Engelhorn-Museum.
Zunächst verlässt auch Anna die Quadratestadt, um in Paris Musik und Gesang zu studieren. Für damalige Verhältnisse für eine Tochter aus dem Großbürgertum recht ungewöhnlich. "Das zeigte ihr Durchsetzungsvermögen", findet Krock. Doch nach mehreren Engagements, unter anderem als Kammersängerin am Hoftheater Weimar, kehrt sie in dem Jahr nach Mannheim zurück, in dem Wilhelm nach Südamerika aufbricht. "Ob das damit zusammenhängt, dass sie dem inzwischen verwitweten Vater den Haushalt führen muss oder mit ihren durchwachsenen Kritiken, ist unklar", bemerkt Krock schmunzelnd.
Carl, der als Kind kränklich war, mausert sich nach Reisen durch England, Frankreich und Portugal zum gut aussehenden Mann von Welt. Er ist charmant und abenteuerlustig. Da sich sein älterer Bruder eher für Völkerkunde und Archäologie interessiert, ist es Carl, der in die unternehmerischen Fußtapfen seines Vaters tritt. 1872 heiratet er Bertha Engelhorn, die Tochter des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn. Doch Bertha stirbt nur fünf Jahre später, was Carl stark mitnimmt. Er bleibt den Rest seines Lebens unverheiratet. Ledig ist auch seine ältere Schwester Anna.
Nach Berthas Tod, aber wohl auch durch die gemeinsamen Interessen, entsteht die starke Bindung des Geschwisterpaars, das nach dem Tod des Vaters allein in der herrschaftlichen Villa in E 7 residiert – sie im Erdgeschoss, er im ersten Stock. Beide gehen leidenschaftlich gern ins Theater und interessieren sich für moderne Kunstrichtungen wie den Impressionismus. Sie fördern junge Künstler. Anna korrespondiert mit Komponisten wie Gustav Mahler oder Clara Schumann. Carl gehört zu den Stiftern des Manet-Gemäldes "Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko", heute eins der bekanntesten Gemälde der Kunsthalle.
Die Villa der Geschwister wird zum Treffpunkt von Kunst, Kultur, Politik und Wirtschaft. "Anna gilt als vollendete Gastgeberin", weiß Krock. Aus Berlin kommen Wilhelm von Moltke und der jüngere Bruder von Kaiser Wilhelm II., Heinrich von Preußen. Er teilt Carls Leidenschaft für Automobile. Der Mythos der "heimlichen Regenten Mannheims" wird geboren. Außergewöhnlich für die Zeit sind die ausgedehnten Reisen von Anna und Carl, die sie nicht nur in europäische Metropolen oder die USA, sondern auch nach Ägypten, Indien, China und Japan führen. "Beide waren neugierig, kosmopolitisch und weltoffen", erklärt der Ausstellungskurator.
Carl stirbt 1914, Anna folgt ihm im Jahr darauf. Da sie keine Nachkommen haben, vermachen sie ihr gesamtes Vermögen der Stadt. Zum Privatbesitz der Familie Reiß gehört auch die Fasaneninsel. Carl legt fest, dass das Gelände der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Es handelt sich – man kann es sich denken – um die heutige Reißinsel. Eine weitere Auflage ist der Bau eines Museums in direkter Nachbarschaft zur Kunsthalle.
Doch die beiden Weltkriege machen den Planungen einen Strich durch die Rechnung. Erst nach dem Wiederaufbau des Zeughauses 1957 kann das Vorhaben verwirklicht werden. Heute sind dort in der Ausstellung "Belle Époque" gemalte Porträts von Anna und Carl Reiß zu sehen, aber auch Fotografien, die sie auf ihren Reisen zeigen, oder das Reißsche Tafelsilber. Ihr Vermächtnis kommt Mannheim also noch heute zugute.