Verheerendes Unglück: Das Luftbild zeigt die beiden umgekippten Waggons des Eurocitys und die Lok des Güterzugs nach der Kollision am 1. August 2014. Foto: Deck
Von Alexander Albrecht
Mannheim. Zusammengesackt sitzt der 62-Jährige auf der Anklagebank im Mannheimer Amtsgericht. Richterin Ursula Ruby-Wesemeyer möchte von dem Lokführer wissen, wie es zum verheerenden Zugunglück in Mannheim kommen konnte. Und wird enttäuscht. Der Angeklagte will sich zunächst nicht zur Sache äußern.
Lediglich persönliche Angaben sind ihm zu entlocken. Danach wohne er in Schwetzingen und sei derzeit arbeitslos. Ein leises "Ja" huscht ihm über die Lippen, als ihn die Richterin fragt, ob ihm sein Arbeitgeber wegen der Folgen der Zugkollision kündigte. Bei vorherigen Vernehmungen hat der 62-Jährige bereits Fehler eingeräumt. Und die waren gravierend. Staatsanwalt Werner Mägerle blickt auf den Abend des 1. August 2014 zurück. Kurz vor dem Mannheimer Hauptbahnhof hat ein Eurocity freie Fahrt. Der von dem Angeklagten gesteuerte Güterzug der Firma ERS Railways muss dagegen warten. Doch der Lokführer fährt weiter, gegen 20.51 Uhr knallen die Züge seitlich aufeinander.
Die ersten beiden Waggons des EC mit 110 Menschen an Bord kippen um und entgleisen, auch zwei Containerwagen des Güterzugs reißt es aus den Gleisen. 14 Passagiere ziehen sich Verletzungen zu, hauptsächlich Prellungen, Hämatome oder Platzwunden. Einen Insassen erwischt es schlimmer: Er bricht sich das Schlüsselbein. Eklatant ist der Sachschaden. Mägerle zählt auf: etwa 1,6 Millionen Euro am EC, über 250.000 Euro am Güterzug und 530.000 Euro an den Bahnanlagen. Als Zeugen sind ein Bundespolizist und ein Gutachter der Eisenbahn-Untersuchungsstelle des Bundes (EUB) geladen. Ihren Angaben zufolge nahm das Drama seinen Lauf, als sich der Lokführer auf der eingleisigen Strecke an dem Signal "Freie Fahrt" orientierte. Das galt jedoch nur für den EC.
Dem Güterzug wurde "Halt" angezeigt. Der Lokführer hielt sich nicht daran. Der Güterzug wurde automatisch zwangsgebremst. "In solchen Fällen sind die Vorschriften ganz klar: Der Lokführer muss Kontakt mit dem Fahrdienstleiter im Hauptbahnhof aufnehmen", sagt der Polizist. Der Fahrdienstleiter wiederum müsse einen "Befehl" erteilen, nur er dürfe die Weiterfahrt erlauben.
Der Lokführer drückte dagegen sechs Sekunden nach Beginn der Zwangsbremsung eigenmächtig die "Frei"-Taste. Der Güterzug kam zwar zum Stehen, setzte seine Fahrt jedoch 23 Sekunden später fort. Und überfuhr in der Folge zwei weitere Stopp-Signale; hier gibt es keine Zwangsbremsungen. Jetzt meldete sich der Fahrdienstleiter beim Lokführer. Laut Protokoll soll er geschrien haben: "Sofort anhalten, um Gottes Willen anhalten."
Eine postwendend eingeleitete Schnellbremsung kam zu spät, wenige Sekunden danach hörte der Fahrdienstleiter den Knall des Aufpralls. Statt nur den Lokführer zu kontaktieren, hätte er auch einen Notruf absetzen können, der laut EUB-Gutachter oberste Priorität hat. Dieser hätte auch den EC-Führer erreicht. Allein: "Dann wären die Züge trotzdem an anderer Stelle zusammengekracht und der Schaden vielleicht noch größer gewesen", betont der Sachverständige.
Was also hat den Lokführer geritten, wenn doch, so der EUB-Abschlussbericht, die technischen Anlagen am Bahnhof und die Züge keinerlei Mängel hatten? "Vielleicht war es Angst vor Repressalien", mutmaßt der Gutachter. Schließlich sei es kein Kavaliersdelikt, wenn jemand ein Haltesignal missachte, und könne eine Abmahnung zur Folge haben. Indirekt widerspricht der EUB-Mann der Gewerkschaft Deutscher Lokführer, die am Rande des Verfahrens die Arbeitszeiten der "Steuermänner" als möglichen Grund für Zugunglücke ins Spiel bringen.
"Dafür gibt es bei der Mannheimer Geschichte keine Anhaltspunkte", stellt der Beamte klar. Der Prozess wird nächsten Mittwoch fortgesetzt. Bei einer Verurteilung droht dem Lokführer bis zu vier Jahre Haft oder eine Geldstrafe.