Von Anica Edinger
Heidelberg. Man kann im Biergarten sitzen. Im Fitnessstudio schwitzen. Im Einkaufszentrum shoppen. Ab dem 29. Mai kann man sogar wieder Achterbahn fahren im Europapark in Rust. Aber lernen in der Schule und spielen in Kitas – das darf man gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Wie lange dieser Zustand noch anhält: Keiner weiß es. Einen Plan, wie es nach den Sommerferien an den Schulen weitergeht, gibt es bislang nicht.
Deshalb laufen viele Heidelberger Eltern jetzt Sturm. Etwa Lydia Hilberer und Anja Titze. Beide haben gemeinsam einen offenen Brief an Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) geschickt – mit der sehr deutlichen Ansage: "Wir fordern die sofortige Öffnung der Schulen und Kitas und eine tägliche Beschulung und Betreuung – in allen Einrichtungen, für alle Kinder und alle Altersklassen!" Um für dieses Anliegen Öffentlichkeit herzustellen, rufen sie zur Demo am heutigen Samstag auf. Ab 11 Uhr geht es los am Uniplatz.
Lydia Hilberer hat selbst drei Kinder, das Älteste ist 27 Jahre alt, die beiden Jüngeren sind elf und 13. Die Mutter weiß: "Sie wollen wieder in die Schule, Freunde treffen und gemeinsam lernen. Sie vermissen ihre Lehrer." Kinder hätten verfassungsrechtlich geschützte Rechte – "unter anderem das Recht auf Teilhabe und Bildung", heißt es im Brief. Aktuell werde dieses Recht mit Füßen getreten. Dazu käme die Belastung für die Eltern, die – zusätzlich zu ihren beruflichen Aufgaben – "den staatlichen Bildungsauftrag der Schulen und Kitas erfüllen". "Das ist Wahnsinn", sagt Hilberer. Längst stießen Eltern an ihre Belastungsgrenzen. "Und das wird einfach so hingenommen."
Man stelle dabei nicht die Pandemie oder den Lockdown infrage. Aber: "Wenn Milliarden Euro für die Rettung von Unternehmen und ganzer Branchen locker gemacht werden können, dann muss es in diesem Land der ,Dichter und Denker‘ auch genug Geld für die Teilhabe, Bildung und Betreuung unserer Kinder geben", schreiben Hilberer und Titze.
Ebenso sehen das Ana und Johannes Fieres, die Initiatoren eines weiteren Briefes, der am Montag an die Kultusministerin gehen soll – und den schon weit über 300 Unterstützer aus Heidelberg und der Region unterzeichnet haben. "Die Unterschriftenliste ist fünf oder sechs Seiten lang", berichtet Johannes Fieres auf RNZ-Anfrage. Gut 100 weitere Mails dürften noch unbeantwortet in seinem Postfach liegen.
Fieres und seine Frau Ana haben drei Kinder, zwei davon gehen in die Grundschule, das Jüngste in die Kita. Beide Elternteile sind berufstätig – er arbeitet bei einem Softwareunternehmen, sie in der IT – und sie finden: "Aufgrund der Pandemie-Maßnahmen erleben wir gerade eine beispiellose Bildungskatastrophe." Dass man die Schulen zu Beginn der Pandemie schloss? "Eine vernünftige Entscheidung", heißt es in ihrem Brief. Die meisten Eltern hätten sich daraufhin mit enormer Anstrengung und Kreativität der Aufgabe gestellt, "gleichzeitig ihre eigene Arbeit und die Beschulung der Kinder zu bewältigen".
Denn dass die Kinder selbstständig lernen könnten, das sei schlicht eine utopische Vorstellung – ganz egal, wie gut die "Fern-Unterstützung" ihrer Lehrer und Lehrerinnen sei. Nach mittlerweile acht Wochen Homeschooling sind "viele Eltern überfordert". Mehr noch: "Nicht wenige haben bereits aufgegeben."
Die größte Sorge aller Briefeschreiber: Dass dieser Zustand ein Dauerzustand bleibt. Schließlich wurden bis zu den Sommerferien für die meisten Kinder in Baden-Württemberg lediglich 30 Schulstunden in Aussicht gestellt. "Das ist unmerklich besser als nichts", schreibt Familie Fieres. Und auch Titze und Hilberer finden: "Bei 30 Stunden Präsenzunterricht kann keine vernünftige Beschulung stattfinden." Ganz zu schweigen von der Chancengleichheit, die es dieser Tage überhaupt nicht mehr gebe.
Johannes Fieres weiß das aus vielen Gesprächen mit anderen Eltern. Manche hätten keinen Drucker, andere kein gut funktionierendes Internet. Deshalb müsse das Kultusministerium jetzt eine tragfähige Perspektive liefern – für Unterricht in Zeiten der Pandemie. Laut Fieres wäre etwa vorstellbar, dass Lehramtsanwärter schon jetzt für Unterricht rekrutiert würden. Es müsse in jedem Fall schnell und entschieden gehandelt werden – "um die Bildungskatastrophe zu stoppen".