Von Philipp Neumayr
Heidelberg. Der Leidensweg von Nicolas Hillerbrand beginnt schleichend. Sein Rücken schmerzt, er fühlt sich krank. "Irgendwann war ich nur noch niedergeschlagen und wurde irgendwie immer schwächer." Seinem Fußballtrainer fällt auf, dass Nicolas im Training nachlässt, nicht mehr so spritzig ist wie die Teamkollegen. In der Schule hat der Jugendliche morgens Schweißausbrüche, seine Nase blutet manchmal tagelang - und die Rückenschmerzen werden immer stärker. Die Internistin sagt ihm, alles sei gut, die Blutwerte kämen in wenigen Tagen. Vier Stunden später ein Anruf aus der Praxis: Er müsse sofort ins Krankenhaus, seine Niere funktioniere nicht mehr.
Es ist ein kalter Tag Anfang Februar 2015, als Nicolas Hillerbrand, 17 Jahre, die Kinderklinik in Heidelberg betritt. Noch ahnt er nicht, dass hier sein neues Zuhause auf ihn wartet. Einmal angekommen, muss sich Nicolas zahlreichen Tests unterziehen. Was genau da eigentlich gemacht wird, versteht er nicht. Was da auf ihn zukommen könnte, weiß er nicht. Am Anfang ist die Welt für Nicolas, wie sie immer ist. Mal abgesehen von diesen lästigen Untersuchungen. Aber das, sagt er sich, wird schon nicht so schlimm sein.
Am Montag, 9. Februar, sitzt Nicolas drei Ärzten mit ernsten Mienen gegenüber. An das Datum erinnere er sich noch genau. An viel mehr aber nicht. "Ich weiß nur, dass irgendwann das Wort Leukämie fiel. Ich habe sie gefragt, ob das nicht Blutkrebs sei. Das wurde bejaht." An diesem Punkt endete das Gespräch für Nicolas. Dumpfe Stimmen, grelles Licht, der Rest Taumel. "Mein Kopf war von da an komplett leer, ich war irgendwie weg."
Doch die Wirklichkeit holt Nicolas schnell wieder ein. Noch am gleichen Tag kommt er auf die Onkologie-Station. Krankenbett, Medikamente, Schläuche. "Es ging alles ganz schnell." Die genaue Diagnose folgt: ALL, Akute lymphatische Leukämie. Eine "08/15 Leukämie", so sagt es jedenfalls sein Chefarzt.
Doch den quälenden Fängen des Krebs entkommt Nicolas so schnell nicht. "Gerade zu Beginn gab es Tage, da hatte ich Schmerzen wie noch nie zuvor." Seine Schleimhäute sind entzündet. Nicolas ist schwindelig, permanent ringt er mit der Übelkeit. "Manchmal habe ich in einer Tour gekotzt." Stechend und unnachgiebig, Tag und Nacht, suchen ihn Gliederschmerzen heim. Geht er ein paar Schritte spazieren, fühlt er sich, als ob er einen Marathon gelaufen wäre. "Damals dachte ich, in mir würde alles zerfallen."
Aber Nicolas lässt sich nicht unterkriegen. "Ich habe gelernt, mein eigenes Ding zu machen. Angst haben, das hilft in so einer Situation einfach nicht." Es sind in erster Linie seine Familie und Freunde, die dafür sorgen, dass der Lebensmut den Jugendlichen so schnell nicht verlässt. "Ich hatte immer Leute um mich herum. Da hatte ich gar keine Zeit, über den Tod nachzudenken", sagt Nicolas.
Eines Tages öffnet sich die Tür zu seinem Krankenzimmer. Es sind zwei seiner besten Freunde. Sie haben sich die Haare abrasiert, aus Solidarität. "Ich konnte es gar nicht mehr erwarten, meine eigenen Haare zu verlieren", grinst Nicolas. Sogar seine alten Freunde aus der Zeit in Neuseeland schicken ihm Fotos mit Glatze. "Die Unterstützung die mir all die Leute in dieser Phase gaben, war so wichtig für mich."
Hoffnung macht Nicolas auch die Chemotherapie. "Klar, es gab Phasen, da ging es mir richtig bescheiden." Und es gab immer wieder diese "Deadlines". Punkte, an denen sich entscheiden sollte, wie es mit ihm weitergeht. "Ob der Krebs sich verabschiedet oder nicht, das war nie wirklich klar." Doch nach einigen Monaten zeigt sich: Die Medikamente wirken, der Krebs zieht sich zurück.
Ende November darf Nicolas das Krankenhaus verlassen. "Da wusste ich: Das Gröbste ist überstanden." Viel Zeit, sich auszuruhen, bleibt ihm nicht. Das Abitur steht vor der Tür. Dass er an den Prüfungen überhaupt teilnehmen kann, liegt auch an der Mithilfe seiner Schule, dem Gymnasium Bammental. "Mit meinem Gemeinschaftskunde-Lehrer habe ich im Krankenhaus regelmäßig über Skype telefoniert." Die Englisch- und Deutschklausuren darf er zuhause schreiben. Das Abi schafft er am Ende locker - mit einem Schnitt von 2,2.
Je weiter der Sommer 2016 fortschreitet, desto besser fühlt sich Nicolas. Ende Juni fährt er mit seinem Freund auf die "Fusion", ein Festival für elektronische Musik. "Das war das erste Mal, dass ich keine Schmerzen mehr hatte und es mir wieder richtig gut ging." Der Ausflug nach Mecklenburg gerät für den frisch gebackenen Abiturienten zum Happy End eines langen Leidensweges. Hier lernt er seine Freundin Lena kennen.
Heute wohnen beide in Karlsruhe. Nicolas studiert Wirtschaftsinformatik im dritten Semester. Mit dem Krebs hat er abgeschlossen. Er hofft, dass auch der Krebs mit ihm abgeschlossen hat. "Das Risiko einer Neuerkrankung ist natürlich immer da." Regelmäßig muss er daher zur Nachuntersuchung. Dass der Krebs eines Tages zurückkehren könnte, so weit denkt Nicolas nicht. "Ich verschwende meine Zeit nicht mit irgendwelchen Sorgen, die es nicht wert sind."
Er sagt es mit dem Selbstbewusstsein eines jungen Erwachsenen, der schon früh in den Abgrund blicken musste. Jetzt, wo er all das durchgestanden habe, wisse er, worauf es ankomme. Auf die Familie, die besten Freunde. Darauf, die nötige Gelassenheit an den Tag zu legen. "Wenn heute irgendetwas passiert, worüber ich mich früher aufgeregt hätte, denke ich mir: Ist das jetzt eigentlich so wichtig?"
Dankbarkeit empfindet der heute 20-Jährige rückblickend besonders für die vielen Menschen, die ihm in der schwierigen Zeit zur Seite standen: Die Krankenschwestern, zu denen er auch heute noch Kontakt hält. Seine Freunde. Und sein Sporttherapeut Simon, der ihn immer wieder ermuntert hat, weiterzumachen, sich körperlich fit zu halten. Er war es auch, der Nicolas für die Benefiz-Regatta "Rudern gegen Krebs" ins Boot holte - genauer gesagt: in den Vierer. "Mal sehen, was da auf mich zu kommt", grinst Nicolas. "Es ist das erste Mal, dass ich in einem Ruderboot sitze." Aber es wäre ja nicht die erste Hürde, die er nimmt.