Von Philipp Neumayr
Du stehst vor der Tür und liest: Ziehen. Das ist eine Tür. Das sind Buchstaben. Das ist Z. Das ist I. Das ist E. Das ist H. Das ist E. Das ist N. Ziehen. Willkommen an der Tür zur deutschen Sprache. Und du drückst. Es ist der 20. September 1992. Du bist seit einem Monat in Deutschland. Die Tür gehört zu deiner Schule, heute ist dein erster Schultag.
Als Saša Stanišić an diesem 20. September 1992 das erste Mal vor der Internationalen Gesamtschule Heidelberg (IGH) steht, ist ihm die deutsche Sprache ein großes Rätsel. Heute, 27 Jahre danach, ist er frisch gekürter Gewinner des Deutschen Buchpreises. Ohne Heidelberg, das zeigt sein autobiografischer Roman "Herkunft", wäre es vielleicht nie dazu gekommen. Hier hat er das erste Mal Fallada und Kafka gelesen. Hier hat er seinen ersten Witz auf Deutsch erzählt und das erste Mal das Herz eines Mädchens erobert. Hier hat er, der 14-Jährige Junge aus Višegrad, im Sommer 1992 eine neue Heimat gefunden. Hier, so schreibt er selbst, ist er ein "Heidelberger Junge" geworden.
Glaubt man Stanišić, dann gäbe es diesen "Heidelberger Jungen" heute nicht, hätte es nicht auch all jene Menschen gegeben, die ihm damals zur Seite standen. Etwa Werner Nickisch, sein erster Deutschlehrer an der IGH: "Ich hatte gleich das Gefühl, dass Saša unheimlich schnell lernt", erinnert sich Nickisch. "Er war wissbegierig und aufmerksam und geradezu gierig nach Literatur." Schon früh entdeckte der Lehrer bei seinem Schüler eine besondere Sensibilität gegenüber Texten. Eines Tages, als Nickisch im Unterricht mit seinen Schülern über Bertolt Brechts Erzählung "Der Augsburger Kreidekreis" sprach, habe sich Saša gemeldet und gesagt: "Das ist aber schön geschrieben." So etwas habe nie zuvor ein Schüler in seinem Unterricht gesagt, erzählt Nickisch.
Wir verabredeten uns für die Mittagspause, saßen neben einem Skelett im Biologie-Fachbereich und sprachen über Metaphern. Er war mein erster Lektor, aber auch die erste Person in Deutschland, die etwas, was ich tat, gut fand. Sich Zeit nahm für mich.
Stanišić merkte schnell, dass er da jemanden gefunden hat, der ihn fördern möchte. Und Nickisch merkte schnell, dass er da einen Schüler hat, der nicht nur wissbegierig und an Sprache interessiert ist, sondern auch schreiben kann. "Er brachte mir täglich kleine Gedichte, die er auf der Schreibmaschine geschrieben hatte. Sie handelten von seinen persönlichen Erfahrungen und waren bereits damals unglaublich gut." Nickisch schlug Stanišić vor, eines seiner Gedichte im Unterricht durchzunehmen, unter Pseudonym.
"Besonderes Interesse hat er daran, merkwürdige Dinge und Phantasien zu formulieren." So steht es in Saša Stanišićs erstem Zeugnis an der Internationalen Gesamtschule Heidelberg (IGH).Es habe vom Ankommen im Winter gehandelt, dem Nachdenken über den Sommer. "Das Gedicht hat mich erschüttert", sagt Nickisch. Als er der Klasse später verriet, dass ihr Mitschüler Saša diese Zeilen geschrieben hat, klatschten sie Beifall. Das sei wie eine Art Schlüsselmoment für Stanišić gewesen, sagt Nickisch. "Damals hat er gemerkt, dass seine Texte wirken. Es war das erste Mal, dass er eine Öffentlichkeit hatte."
Mein Geschichtslehrer, Herr Gebhard, war ein großer, sanfter Mann vom Bodensee mit einem Faible für Revolutionen. Die französische Revolution, die wackeren 1848er, die chinesische Revolution von 1911 - einen Umsturz konnte er so detailverliebt anschaulich erklären, und dazu mit einer Sehnsucht, dass es mir vorkam, als erzählte er gerne Geschichten, deren Protagonist er gern (oder absolut ungern) selber gewesen wäre - mit Danton und Robespierre beim Würfelspiel.
Spricht man Werner Gebhard heute auf diese Passage aus "Herkunft" an, dann lacht er: "Ich fühle mich gut beobachtet und getroffen." Gebhard unterrichtete Stanišić zwischen 1995 und 1997 im Leistungskurs Geschichte. Heute sind sie miteinander befreundet, schreiben sich Whatsapp-Nachrichten und E-Mails. Als Stanišić vor zwei Wochen im Frankfurter Römer der Deutsche Buchpreis verliehen wurde, saß Gebhard im Publikum. Erinnert er sich an seinen Schüler, erzählt er von einem Jugendlichen, der klug, witzig und charmant war, aber auch jemand, der in seinem Kurs nicht großartig herausstach. Zwar sei Saša ein guter Schüler gewesen, der seine 13 Punkte geschrieben habe, sagt Gebhard. "Dennoch gab es immer zwei, drei Schüler, die besser waren als er."
Was Gebhard im Rückblick am meisten verwundert: Stanišić hat seine Herkunft zu keinem Zeitpunkt an die große Glocke gehängt. "Er hat das nie thematisiert, dass er noch nicht so lange in Deutschland ist, obwohl er ja eigentlich kurz davor stand, abgeschoben zu werden." Saša habe einfach Saša sein wollen, ein Schüler wie jeder andere - und nicht der Ex-Jugoslawe. In seinem Jahrgang habe Stanišić viele Freunde gehabt, sei gut verankert gewesen, erzählt Gebhard. "Und ich hatte das Gefühl, dass er auch bei den Mädchen einen Schlag hatte", sagt er und lacht. Lange Haare, dunkle Kleidung, Gitarre spielend - das sei damals Stanišićs Image gewesen. "Vom Auftreten her war er schon immer eher der Poet."
In der IGH las er 15 Jahre später - im Jahr 2007 - in der vollen Aula aus seinem Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon repariert".Während des Unterrichts, sagt Gebhard, sei Stanišić manchmal abgeschweift, habe unter der Bank irgendetwas geschrieben. Einmal habe er Saša unter eine Klassenarbeit die Bemerkung geschrieben, er solle präziser werden, keine Romane formulieren. "Zum Glück", sagt Gebhard und lacht, "hat er das nicht beherzigt." Dass in Stanišić schon damals ein schriftstellerisches Talent schlummerte, merkte der Lehrer erst spät. In der Abi-Zeitung schrieb Stanišić einen Bericht über den Geschichte-Leistungskurs unter Gebhard. Der Titel: "Von Gebhard lernen, heißt siegen lernen!" Als er diesen Bericht las, habe er erst gesehen, wie gut Stanišić schreiben könne, sagt der Lehrer heute. "Das war eine schöne, witzige Würdigung, die ich in dieser Form nie mehr bekommen habe."
Rahim hatte einen lockigen Kopf und einen kurvigen Namen, der ihm gelegentlich ein "Bist du Araber oder so was?" einbrachte. (...) Rahim sagte, er schreibe selber "so Geschichten". Und dass er mich mal im 31er gesehen habe, ob ich auch im Emmertsgrund wohnte. Wir klärten schnell, wer wo: er in den Einfamilienhäusern, ich nicht in den Hochhäusern, was man bei einem Jugo erwarten würde, sondern immerhin in den Bungalows am Rand des Viertels. (...) Rahim war satirischer Nostalgiker mit Fernweh. Ich kitschiger Nostalgiker mit Heimweh.
Wo auch immer Stanišić in Heidelberg unterwegs war, einer war meist dabei: sein Freund Rahim Arnold. Beide lernten sich an der IGH kennen, beide wohnten auf dem Emmertsgrund, beide hatten dieselben Leistungskurse in der Oberstufe und besuchten später dieselben Kurse an der Universität. "Wir haben alles zusammen gemacht." Das Interesse am Schreiben und der Literatur habe sie früh miteinander verbunden, sagt Arnold, der heute als freiberuflicher Texter arbeitet. "In der Schule haben wir beide Gedichte unter der Bank geschrieben", erinnert er sich.
Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. (…) Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.
Die Aral-Tankstelle im Emmertsgrund - für Stanišić und Arnold ein zentraler Ort ihrer Jugend. "Immer wenn wir nichts zu tun hatten, hingen wir dort ab", erinnert sich Arnold. "Wir", das heißt: Holländer, Italiener, Russlanddeutsche, Türken, Griechen, Polendeutsche, Deutsche. An der Tankstelle sei es meist lustig und unterhaltsam zugegangen - "aber nie besonders akademisch", sagt Arnold. Die Clique habe viel Blödsinn gemacht - Stanišić war nicht immer mit dabei. Wenn sie nachts ins Freibad eingestiegen seien, habe Saša manchmal gesagt: "Ich kann da nicht mitmachen." Schließlich habe er gewusst, dass er jederzeit wieder abgeschoben werden könne.
Ich jobbte im Café Burkhardt in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. Was die ARAL für die Jugend Emmertsgrunds war, war das Burkhardt für die Altstadt: ein Universum in der Nussschale mit getäfelten Wänden. Alle kamen sie: der SPD-Kreisverband, um mal wieder eine verlorene Wahl in Grauburgunder zu ertränken, Diabetiker-Omas fächelten sich gegenseitig Luft zu nach dem zweiten Stück Schwarzwälder Kirsch.
Nach seinem Abitur zog Stanišić vom Emmertsgrund "nach unten", in die Weststadt. Von 1997 bis 2004 studierte er Deutsch als Fremdsprache und Slawische Philologie an der Ruperto Carola. Mehr als zwei Jahre arbeitete er im Café Burkhardt in der Unteren Straße. "Saša hat damals schon gerne Pullunder getragen", sagt seine ehemalige Chefin Ulrike Zierl. Sein Akzent, das rollende R, das sei ausgeprägter gewesen als heute.
Das Foto zeigt das Passbild von Saša Stanišićs Studentenausweis an der Heidelberger Uni.Zierl spricht über einen jungen Mann, der "schon immer gerne mit Worten gespielt hat" und über eine "besondere Sprache" verfügte. Stanišić habe eine Schwäche für Menschen und ihre Skurrilitäten gehabt. Während der Arbeit, erzählt Zierl, habe Stanišić auf seinen Kellnerblöcken kurze Notizen über Gäste und Kollegen verfasst. "Die Zettel klebten dann später in der Nähe der Kasse. Die Kollegen haben sich schlappgelacht."
Der Koffer aus Sprache ist mit mehr Gepäck leichter geworden. Die vielen Vokabeln und Regeln und Fertigkeiten schicken dich auf eine neue Reise: Du beginnst Geschichten zu schreiben.
"Er wusste immer, was er wollte. Schreiben und Geschichten erzählen", sagt Rahim Arnold. Saša sei schon immer einer gewesen, der eher mit dem Kopf gearbeitet habe. Seinen Nebenjob im Baumarkt habe er schnell aufgegeben. "Einmal", erzählt Arnold, "verlangte der Chef von ihm, mit einem fünf Meter langen Staubsaugerrohr die Spinnweben von der Decke zu entfernen. Da haben wir uns totgelacht."
Besonders gerne denkt Arnold an eine Autofahrt nach Bosnien, irgendwann in den neunziger Jahren. "Wir sollten seinem Onkel ein Auto bringen. Also haben wir uns zusammen auf den Weg gemacht." Und weil sie schon einmal dort waren, haben sie natürlich auch Višegrad, die Heimat Stanišićs besucht. "Wir sind in den Hof eingefahren, auf einmal saß da seine Oma mit den Nachbarn. Das war alles sehr bewegend", sagt Arnold. Erst da sei ihm bewusst geworden, welche Geschichte sein Freund da eigentlich hinter sich habe. "Da habe ich begriffen, dass Saša keine normale Biografie hat."
Heidelberg ist ein Junge aus Bosnien, der sich in den Weinbergen am Emmertsgrund von einem Mädchen Deutsch beibringen lässt. Der sich erst viel später des Zufalls bewusst werden wird, ausgerechnet ein Heidelberger Junge geworden zu sein. Der diesen Zufall Glück nennt und diese Stadt: mein Heidelberg.