Von Manfred Bechtel
Heidelberg. Die Geschichte der Großen steht in den Geschichtsbüchern. Weit seltener tritt das "Heer der kleinen Leute" ins Licht. Was sie geleistet und erlitten haben, davon ist wenig aufgezeichnet, ihre spärlichen Lebensdaten sind verstreut auf Kirchenbücher und Akten. Oft kommt man bei ihrer Ahnenforschung nicht weiter als drei oder vier Generationen. Anders bei der Handwerkerfamilie Loos. Ihr Stammbaum reicht mehr als vier Jahrhunderte zurück.
Und weil sie an ihrem Stammsitz in der Altstadt mittendrin im Geschehen war, spiegelt sich in den Familienschicksalen auch die "große" Geschichte – vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg. "Die Heidelberger Zuckerbäcker Loos – ein Streifzug durch 400 Jahre Alt-Heidelberger Stadt- und Familiengeschichte" war der Titel des Vortrags beim Verein Alt-Heidelberg im Amtsstübl. Matthias Wermke hat ihn gehalten, seine Mutter war eine geborene Loos. Er und sein Bruder Albrecht können auf elf Generationen zurückblicken.
Rudolf Loos: Der Letzte einer Zuckerbäckerdynastie. Foto: Manfred BechtelWenn man die Hauptstraße entlanggeht, zweigt kurz vor der Heiliggeistkirche rechts ein Gässlein ab – die Floringasse. In dem Eckhaus kann man heute allerhand Andenken, aber auch Brezeln kaufen. "Bäckerei und Altstadt-Markt" steht über dem Schaufenster. Dazu gibt es je nach Jahreszeit Kaffee oder Glühwein zum Mitnehmen. Hier war über Generationen der Sitz der Zuckerbäckerei Loos.
Der Verkaufsraum der Conditorei lag zur Hauptstraße hin, hinten lud das Café zum Sitzen ein – fast ein Wohnzimmer mit Kachelofen und holzvertäfelter Wand, an der die Tageszeitungen aushingen. 160 Jahre lang hatte das Café Bestand, zuletzt und bis in den Zweiten Weltkrieg betrieben von "unserem Opa Loos", wie Enkel Wermke liebevoll sagt.
Indessen reicht der Stammbaum der Familie in der Heidelberger Altstadt viel weiter zurück: Im Bürgerverzeichnis von 1588 taucht der Stammvater auf: Wolff Loß.
Nicht als Zuckerbäcker verdiente er seinen Lebensunterhalt, sondern als Weißgerber. Sein Haus stand in der Fischergasse, die zum Neckar hinunterführt, denn Gerber brauchen für ihr Handwerk Wasser. "Ist er in Heidelberg geboren, könnte er als Kind oder junger Mensch noch Zeuge davon gewesen sein, wie sie den alten, kranken Ottheinrich (der Kurfürst starb 1559) auf seinem Tragestuhl vom Schloss hinunter in die Heiliggeistkirche zu seiner Bibliothek geschleppt haben", lässt Matthias Wermke seiner Fantasie ein wenig freien Lauf. "Ob er allerdings tatsächlich in Heidelberg geboren wurde oder zugewandert ist, lässt sich natürlich nicht mehr entscheiden. In der Familie hält sich die Vermutung, dass er oder vielleicht auch schon sein Vater ein Religionsflüchtling gewesen sein könnten." Als Protestant, Anhänger des reformierten Glaubens, als Wallone, könnte er aus Nordfrankreich oder Südbelgien eingewandert sein, auch der Familienname verweise in diese Region.
Fazit: "Bewiesen ist: Der Mann hat existiert, lebte 1588 als Weißgerber in der Fischergasse und hat Steuern bezahlt."
Sein Sohn Barthel war zweimal verheiratet, die zweite Eheschließung datiert von 1621, ein Jahr vor der Eroberung der Stadt durch die Truppen Tillys. "Was er mit seiner Familie während des Dreißigjährigen Krieges erlebt, erlitten, erduldet hat, wissen wir nicht. Besetzung, Seuchen, Hunger, Krankheit haben viele zur Flucht veranlasst, möglicherweise auch Barthel mit seiner Familie", vermutet Wermke.
Die nächste Generation durchlebte die Zerstörungen des Pfälzischen Erbfolgekrieges. Sie wurden Zeugen, wie Mélacs Truppen das Schloss sprengten und die Stadt abfackelten. Vielleicht waren diese Vorfahren mit anderen Bürgern und ihren Kindern in der Heiliggeistkirche eingesperrt, als sie angezündet wurde. Familiengeschichte und Stadtgeschichte lassen sich für uns hier überhaupt nicht trennen."
Die Loos’schen Vorfahren blieben nicht Weißgerber, ein Schuhmacher taucht in der Ahnenreihe auf, der Nächste ist "Schneider dann Krämer". Die ersten Zuckerbäcker treten Anfang des 18. Jahrhunderts in Erscheinung. 1789, im Jahr der französischen Revolution, steht Johann Martin Loos in Zusammenhang mit der sogenannten "kleinen Bürgerrevolution": Der Zuckerbäcker zählt zu den Unterzeichnern einer Beschwerde über hohe Abgaben, welche die Bürger bei Kurfürst Carl Theodor einreichten. Das Schreiben prangert Vetternwirtschaft und Korruption in Zusammenhang mit der Finanzierung des ungeliebten Karlstors ("eine ungeheure Steinmasse") an. Für die Verfasser war das Schreiben allerdings nicht ganz harmlos, weil die Kritik sich indirekt auch gegen den Kurfürsten richtete: Der hatte den Bau befürwortet, die nötigen Finanzen aber nicht zur Verfügung gestellt.
Zum Zeitpunkt der Beschwerde wohnte der Zuckerbäcker Johann Martin Loos bereits neun Jahre in dem Haus Ecke Hauptstraße/Floringässlein, das er mit seiner Frau gekauft hatte. Hier richteten sie die Backstube und einen Spezereiwarenhandel ein. Damit beginnt die Geschichte des Café Loos. Aus dieser Zeit stammt das Rezept für "Mays Apfelkuchen" – geriebene Mandeln, Zitronenschale, Zimt und Eierschnee lassen ein charaktervolles Gebäck erwarten. Eine andere Spezialität läuft unter dem prosaischen Arbeitstitel "Scheißhaufen": Mächtige Zutaten werden zu einem schweren Spritzgebäck verrührt, vergleichbar dem "Mannemer Dreck" aus der Nachbarstadt. Überliefert sind die historischen Rezepte in handgeschriebenen Backbüchern. Was aber sehr zum Leidwesen von Matthias Wermke fehlt, sind die Gästebücher. "Es ist bedauerlich, dass man nicht feststellen kann, wer da zu Besuch war. Vielleicht sogar Ludwig Tieck oder Clemens von Brentano."
"Mitunter trank man burschikos/den braunen Trank im Café Loos", hatte ein Burschenschaftler gereimt. Aber in den Jahren des Zweiten Weltkriegs war Schluss mit dem "braunen Trank" und "Mays Apfelkuchen". Der Großvater, der schon im Ersten Weltkrieg gedient hatte, wurde 1944 eingezogen, an die Front musste er nicht mehr, aber nach dem Krieg war er nicht mehr in der Lage, das Geschäft weiterzuführen. In den 1950er Jahren übernahm eine Hamburger Firma die Räume und richtete eine Fischbraterei ein. Daraus wurde eine "Sankt-Pauli-Bar". 1972 wurde das Haus verkauft. Damit endete die Geschichte der alteingesessenen Familie in Heidelberg.