Firas Kochtbene wurde im Rahmen eines Landesprojekts erfolgreich zum Lokführer ausgebildet. Obwohl eine Mannheimer Firma ihn unbefristet anstellen will, muss er nun bei der IHK weiterlernen, um sicher vor Abschiebung zu sein. Foto: Philipp Rothe
Von Joris Ufer
Heidelberg. Firas Kochtbene zeigt auf eine nicht enden wollende Reihe rätselhafter Zeichen in seinem Ordner. "Als Lokführer muss man mehr als 300 Signale und Symbole auswendig lernen", erklärt er. Der dünne, groß gewachsene Mann sitzt an seinem Schreibtisch in einem kleinen WG-Zimmer auf dem Boxberg. An der Wand hängen allerhand Andenken an sein Herkunftsland Tunesien. Seit 2013 ist der 27-Jährige nun schon in Deutschland und hat erfolgreich eine Ausbildung als Triebfahrzeugführer bestanden, ein Beruf, für den in Deutschland dringend Leute gesucht werden. Als solcher hier arbeiten darf Kochtbene aber nicht. Denn obwohl die Mannheimer MEV Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft ihn unbefristet anstellen will, ist er gezwungen, stattdessen eine weitere Ausbildung dranzuhängen – sonst droht die Abschiebung.
"Ich bin damals für einen Traum nach Heidelberg gekommen, mit einem Studentenvisum", erinnert sich Firas Kochtbene. Nach zwei Jahren, in denen er Deutsch lernte und in der Gastronomie arbeitete, konnte er in Karlsruhe endlich sein Studium der Elektroinformationstechnik beginnen. Vier Semester lief alles gut, bis er an einem Mathekurs scheiterte und sich 2018 exmatrikulieren musste. Sich erneut einzuschreiben war damals aus finanziellen Gründen keine Option. Seit 2017 müssen Nicht-EU-Ausländer in Baden-Württemberg 1500 Euro pro Semester bezahlen.
Mit der Exmatrikulation verfiel auch Kochtbenes Studentenvisum. "Ich habe angefangen, eine Ausbildung zu suchen", berichtet er. Mit etwa 200 anderen bewarb er sich auf eine Ausbildungsinitiative des Verkehrsministeriums. Bei dem Projekt sollten Immigranten und Geflüchtete als Quereinsteiger zu Lokführern für vier private Unternehmen ausgebildet werden, um dem Personalmangel entgegenzuwirken. Mit nur 14 weiteren Bewerbern gelang es ihm, sich zu qualifizieren. Auf seinem Handy hat er ein Foto von einer Pressekonferenz im Dezember 2019. Es zeigt ihn neben dem baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann. Dieser habe damals den Journalisten gesagt, dass der Staat Lokführer brauche und er für jeden der Auszubildenden da sein werde, der bleiben wolle.
Firas Kochtbene nahm den Minister beim Wort, denn genau am Tag der Pressekonferenz hätte er trotz eines Ausbildungsvertrags bei der MEV seinen Abschiebungsbescheid bekommen. "Ich hatte mir hier ein Leben aufgebaut", sagt er. Also wandte er sich an Hermann – mit Erfolg. Mit der Zusage an das zuständige Regierungspräsidium, nach der zehnmonatigen Quereinsteiger-Ausbildung noch eine zweijährige Ausbildung bei der IHK zu machen, erhielt er immerhin eine Duldung. "Das war damals in meiner Prüfungsphase", betont Kochtbene.
Er habe freitags seinen Bleibebescheid bekommen und montags seine nächste Prüfung gehabt. Mit viel Elan bestand er trotz der geringen Vorbereitungszeit. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass er darum fürchten musste, seine Existenz hier auf einen Schlag zu verlieren. Auf RNZ-Anfrage teilt das Regierungspräsidium Karlsruhe mit, dass die Voraussetzung für eine Ausbildungsduldung eine Berufsausbildung von mindestens zwei Jahren sei. Das sei bei Kochtbenes zehnmonatiger Einstiegsqualifizierung nicht möglich gewesen.
Der Tunesier sagt, dass ihm die MEV nach seiner bestandenen Prüfung am 31. August einen unbefristeten Arbeitsvertrag angeboten habe. Diesen habe er nicht annehmen können, da ihm sonst direkt wieder die Abschiebung gedroht hätte – weil die Ausbildungsduldung damit ungültig geworden wäre.
Das Regierungspräsidium sagt dazu, man habe Kochtbene für diese Beschäftigung eine Duldung ausgestellt: "Im Rahmen dieser Duldung hätte Herr Kochtbene einer Beschäftigung nachgehen dürfen, allerdings wären aufenthaltsbeendende Maßnahmen wieder möglich gewesen." Heißt im Klartext: Eine Abschiebung wäre nicht ausgeschlossen gewesen, wenn er den Job angenommen hätte. Um also erst einmal sicher hier bleiben zu können, entschied der Tunesier sich für die IHK-Ausbildung – und konnte daher nicht bei der Firma arbeiten, die ihn eigens dafür ausgebildet hatte.
Der 27-Jährige versteht, dass das aufgrund der Gesetze so passiert sei und doch findet er es paradox: "Es ist ein Mangelberuf. Ich hätte gedacht, das ich mit dem Führerschein trotzdem arbeiten dürfte." Stattdessen habe man ihm seinen Reisepass abgenommen. "Ich fühle mich eingesperrt", fügt er mit brüchiger Stimme hinzu.
Er kramt ein altes Bild hervor, das nur wenige Jahre alt ist. Der Unterschied ist erschreckend. Er hat viel Gewicht verloren, seine Wangen wirken eingefallen. Es sei nicht ganz leicht gewesen, sagt er mit einem Blick zur Seite. Trotz mehrmals drohender Abschiebungen habe er in Heidelberg bleiben wollen: "Ich habe mich in die Stadt verliebt und mir nie etwas zu Schulden kommen lassen", bekräftigt er. Nun sei er der Einzige aus seinem Jahrgang, der die Ausbildung bestanden habe und trotzdem nicht arbeiten dürfe. Für die anderen, hauptsächlich Geflüchtete, gelten die Bestimmungen des Asylrechts.
"Ich bin 27. Ich will arbeiten und mir eine eigene Wohnung suchen", sagt er weiter. Er habe nicht einmal die Freiheit, seine Familie in Tunesien zu besuchen, sollte ihnen etwas zustoßen. Kochtbene versteht nicht, warum der Staat ihm noch eine Ausbildung finanzieren wolle, obwohl er mit einer dringend benötigten Arbeit selbst Steuern zahlen könnte. "Das ergibt doch keinen Sinn", sagt er. "Die MEV will mich nehmen, aber für den Staat bin ich trotz Führerschein kein Lokführer."
Ändern würde sich all das nur mit einem anderen Aufenthaltsstatus – oder wenn er hier heiraten würde. Kochtbene hofft, durch seine fast achtjährige Zeit in Deutschland bald einen festen Aufenthaltstitel erwirken zu können. Dann könnte er seinen Vertrag bei der MEV vielleicht doch noch antreten. Für ihn ist klar: "Ich will deswegen keine Frau heiraten, die ich nicht liebe. Ich will auch kein Geld, sondern arbeiten, um mir eine eigene Wohnung zu suchen und eine Familie zu gründen."