Von Anica Edinger
Heidelberg. Heidelberg war eine frühe Hochburg der Nationalsozialisten. Schon 1920 gab es am Neckar erste Aktionen der NS-Bewegung, bei den Kommunalwahlen 1930 erhielt die NSDAP gar 35,7 Prozent. Zur Machtergreifung gab es gleichwohl "nur" einen Fackelzug samt Kundgebung – "eine disziplinierte und organisierte Veranstaltung im gewohnten Rahmen", schrieb Heinrich Hoffmann 1985 rückblickend.
Doch wer waren die Menschen, die 1933 die Macht ergriffen und sie bis 1945 hielten? Dieser Frage nahm sich jetzt Joey Rauschenberger an. Der 28-jährige Historiker verfasste seine Masterarbeit zum Thema "Die NSDAP in Heidelberg" – und legte eine Lokalstudie zu Organisation und Personal der NSDAP im "Dritten Reich" vor. "Ich wollte wissen: Wie war die NSDAP in Heidelberg strukturiert? Wie hat sich das bis 1945 entwickelt? Wie war die Partei gegliedert?", sagt Rauschenberger im RNZ-Gespräch. Das ehrgeizige Ziel: "Eine Kollektivbiografie der NSDAP-Funktionäre in Heidelberg schreiben." Im Fokus: die höheren "Politischen Leiter", NSDAP-Kreisleiter, Kreisamtsleiter, Ortsgruppenleiter. Letztlich 48 Menschen schafften es in Rauschenbergers Untersuchungsgruppe, mühsam zusammengetragen nach unzähligen Stunden im Heidelberger Stadtarchiv, aber auch im Karlsruher Generallandesarchiv. Noch nie zuvor hat sich ein Historiker diese Arbeit gemacht. Was ist dabei heraus gekommen? Ein Gespräch über "aufgeblasene Nazibonzen", deren Aufgaben in Heidelberg – und über eine Forschungslücke.
Aufmarsch von Nationalsozialisten in der Hauptstraße. Es gab 14 Ortsgruppen der NSDAP in den Stadtteilen. Foto: privatHerr Rauschenberger, eine Kollektivbiografie einer ganzen Gruppe von Menschen schreiben: Wie kann das gelingen?
Indem man ganz genau die Untersuchungskriterien festlegt, sich die klassischen sozialen Merkmale anschaut: das Alter, die Generation, aus der die Menschen stammen, die Konfession, die soziale Schichtung, die lokale Verwurzelung, das Geschlecht. Zudem habe ich mir die soziale Verankerung der Funktionäre in der städtischen Gesellschaft angeschaut – waren sie ehrenamtlich engagiert etwa im örtlichen Vereinswesen, in berufsständischen Interessenverbänden oder den kommunalen Selbstverwaltungsgremien? Wie anerkannt sind sie im Allgemeinen im sozialen Feld? Dazu konnte ich Pierre Bourdieus Theorie vom sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapital von Menschen heranziehen.
Joey Rauschenberger. Foto: AlexWas waren das nun für Menschen, die in Heidelberg für die NSDAP arbeiteten?
Bis auf drei Ausnahmen – drei Frauen, die das Kreisamt für Frauen geleitet haben – waren alle zentralen Figuren Männer, was natürlich kaum überraschend ist in dieser Zeit. Zudem waren die Männer überwiegend Protestanten, die dann später aus der Kirche ausgetreten sind, um den neu eingeführten Status der Gottgläubigkeit anzunehmen. Das war der Wunsch, den die Nazis hatten, weil sie die Kirchen als Konkurrenz sahen. Außerdem waren die Funktionäre in Heidelberg nur selten sehr alt, sondern eher jungen bis mittleren Alters. All dies deckt sich mit den Ergebnissen der bisherigen Forschung zur Sozialstruktur der NSDAP-Funktionäre.
Und wie war ihre gesellschaftliche Stellung? Wie viel soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital hatten sie?
Die Heidelberger Kreis-, Kreisamts- und Ortsgruppenleiter waren überwiegend, nämlich zu fast 80 Prozent, aus der beruflichen Mittelschicht der kleinen und mittleren Beamten, Angestellten und selbstständigen Handwerksmeister; lediglich Bauern spielten innerhalb der mittelständischen Berufsgruppen in der 85.000-Einwohner-Stadt fast keine Rolle. Es handelte sich eher um Leute, die am Rand der Gesellschaft standen, die sich zuvor nicht besonders stark ins öffentliche Leben einbrachten, es waren nicht unbedingt die Leute, die in der Nachbarschaft und darüber hinaus jeder kannte und jeder mochte. Es waren also keine lokalen Honoratioren, nicht die Vereinsvorsitzenden, die schon Einfluss hatten, die dann auch Funktionen in der NSDAP übernahmen. Vielmehr waren es eingefleischte Nazis, was neben dem Kirchenaustritt vor allem der Umstand belegt, dass sie fast alle vor 1933 in die Partei eingetreten waren. Sie hatten sich schon vor der sogenannten Machtergreifung in der NS-Bewegung eingebracht und wurden danach mit Positionen belohnt.
Was war mit Arbeitern? Gab es die in der Heidelberger NSDAP?
Nein. Nach meiner Definition fanden sich unter den höheren städtischen Parteifunktionären exakt null Arbeiter oder sonstige Unterschichtsangehörige. Dieser Umstand verweist darauf, dass das Funktionärskorps der Heidelberger NSDAP eine vom Mittelstand absolut dominierte Gruppe war. Im größeren Forschungskontext ist das deshalb interessant, weil es seit einigen Jahren eine Tendenz gibt, die mittelständische Prägung der NSDAP zu relativieren und demgegenüber die Beteiligung der Arbeiter am Nationalsozialismus stärker zu betonen. Für die Wähler und Mitglieder der Partei konnte das auch überzeugend nachgewiesen werden. Für die Ebene der NSDAP-Amtsträger legen die Ergebnisse meiner Lokalstudie aber nun etwas anderes nahe.
Was haben die Menschen denn genau gemacht, die Sie untersucht haben?
Ziel der NSDAP war es ja letztlich, die Gesellschaft durch und durch – "total" – zu durchdringen, die Bevölkerung innerlich von der Richtigkeit der nationalsozialistischen Ideologie und der Maßnahmen der nazifizierten Regierung zu überzeugen. Man wollte die Einheit von Volk und Führung, eine nicht nur ethnisch, sondern auch politisch homogene "Volksgemeinschaft" schaffen. Das konnte nicht nur durch Drohungen, Gewalt und Repression geschehen, sondern sollte auch durch soziale Maßnahmen und positive Anreize gelingen. Dafür musste ein Repräsentant der NSDAP vor Ort auch als eine Art "politischer Seelsorger" fungieren, an den man sich wenden konnte, wenn man Wünsche und Sorgen hatte. So gab es auch so etwas wie Bürgersprechstunden. Neben der Aura als weltanschaulich gefestigte Nationalsozialisten und Vorkämpfer des "neuen Staates" gehörte zum Idealbild, das die Mitmenschen von Uniform-Trägern der NSDAP haben sollten, auch ein integerer Charakter, möglichst allseitige Popularität sowie eine fürsorgliche, allzeit hilfsbereite Einstellung.
Und erfüllten die NSDAP-Funktionäre das propagierte Bild?
Die tatsächlichen Verhaltensmuster der "Politischen Leiter" im Alltagshandeln sind anhand der Quellen nur sehr schwer aufzuspüren. Manche mögen den idealtypischen Anforderungen der Parteiführung in bestimmten Situationen entsprochen haben. Aber zuweilen trifft das aus Film und Fernsehen bekannte Bild vom aufgeblasenen Nazibonzen in Uniform, dem "kleinen Hitler", der die Leute tyrannisierte und seine Macht missbrauchte, auch voll und ganz zu.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Man findet in den Akten viele Vorfälle, die zeigen, dass da zum großen Teil Fanatiker aktiv waren, die sich auch an kleineren Abweichungen von der Parteilinie störten und ihrer Umwelt so erheblich zur Last fielen. Heinz Hormuth etwa war einer der führenden Heidelberger Nazis und unter anderem ehrenamtlicher Kreisamtsleiter für die NS-Betriebszellenorganisation im Stab des Kreisleiters. Im Hauptberuf wurde er nach 1933 Leiter der AOK am Ebert-Platz. Die damalige Bäckerei Seligmann in der Plöck – sie wurde im Nationalsozialismus arisiert und ist heute als Bäckerei Göbes bekannt – wurde von Juden geführt. Von Hormuth liegt mir ein Rundschreiben an alle Mitarbeiter der AOK von 1935 vor, in dem er schreibt, dass er mitbekommen habe, dass viele ihre Brötchen immer noch bei dieser "jüdischen" Bäckerei kauften. All jenen drohte er im Wiederholungsfall mit Disziplinarverfahren "mit dem Ziel der fristlosen Entlassung".
Neben dem Personal ging es Ihnen ja auch um den strukturellen Aufbau der NSDAP. Wie viele NSDAP-Ortsgruppen gab es denn in Heidelberg?
Das veränderte sich über die Zeit. Während der Weimarer Republik, als die NSDAP noch relativ wenige Mitglieder hatte, gab es lediglich eine Ortsgruppe für Heidelberg, die zunehmend größer wurde. Mit dem großen Mitgliederzuwachs nach 1933 musste diese Ortsgruppe dann geteilt werden und aus der Infrastruktur der ehemaligen Stadt-Ortsgruppe entstand die Kreisleitung, die in der Parteihierarchie zwischen der Gauleitung in Karlsruhe und den Ortsgruppen stand. Am Ende dieses Prozesses gab es in Heidelberg 14 Ortsgruppen. Der Pfaffengrund war der letzte Stadtteil, in dem eine gegründet wurde, da er ein klassischer Arbeiterstadtteil war, in dem die Leute traditionell den marxistischen Parteien zuneigten und die NSDAP folglich erst spät die Mindestanzahl von Mitgliedern für eine Ortsgruppengründung erreichte.
Was ist mit den Menschen, die Sie untersucht haben, nach 1945 passiert?
Obwohl ich diese spannende Frage in meiner Arbeit ausklammern musste, konnte ich die Nachkriegswege der ehemaligen Parteifunktionäre in vielen Fällen an den genutzten Spruchkammerakten nachverfolgen. Ein Spruchkammerverfahren wurde für jedes NSDAP-Mitglied eröffnet. Der Betroffene konnte in den Verfahren Material sammeln, das ihn entlastete. Manchmal reichte zur Entlastung auch schon eine Aussage eines Nachbars, dass XY nichts Schlimmes verbrochen habe. Die Spruchkammern wurden von dem Historiker Lutz Niethammer einmal als "Mitläuferfabriken" bezeichnet, womit gemeint ist, dass sie zu verhältnismäßig milden Urteilen gelangten und ehemals überzeugte Nazis schnell als bloße Mitläufer rehabilitierten. Tendenziell trifft diese Bereitschaft zu Schuldabweisung und Vergessen auch auf die entnazifizierten Heidelberger NSDAP-Funktionäre zu.
Also konnten sie auch nach 1945 noch Karrieren machen?
Für Menschen, die in der NSDAP Karriere gemacht haben, war es nach 1945 schwieriger, wieder Fuß zu fassen, als für solche, die im "Dritten Reich" im Öffentlichen Dienst oder der Wirtschaft erfolgreich waren. Jedenfalls hatten die höheren "Politischen Leiter" Heidelbergs nach 1945 nicht mehr die hohen Spitzenämter inne.
Sie haben Pionierarbeit geleistet in Ihrer Masterarbeit – wird Sie denn auch veröffentlicht?
Daran arbeite ich gerade, bei Masterarbeiten ist das aber ein schwieriges Prozedere. Voraussichtlich bekomme ich aber im Jahrbuch des Heidelberger Geschichtsvereins ein wenig Platz.
Wieso hat Sie denn ausgerechnet ein solch regionaler Blick interessiert?
Es hat viele Vorteile, wenn man sich in seiner Forschung mit regionalen und lokalen Fragestellungen befasst. Ein entscheidender liegt für mich darin, dass man häufig ganz nah an den Quellen arbeiten kann und diese nicht schon zuvor viele Male bearbeitet wurden. Mit Dokumenten zu arbeiten, die zuvor nur sehr wenige Leute in der Hand hatten, das hat mich schon immer gereizt.
Noch niemand hat sich vor Ihnen also mit der Parteistruktur der NSDAP während des Nationalsozialismus in Heidelberg auseinandergesetzt?
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Geschichte in Heidelberg ist ambivalent. Intensiv bearbeitet wurde die Heidelberger Universitätsgeschichte zwischen 1933 und 1945. Zudem gibt es viele Forschungen und Arbeiten zum Thema Judenverfolgung, zur Opfergeschichte. Was einer Geschichte der Stadt Heidelberg in der Zeit des Nationalsozialismus bis heute aber fast vollständig fehlt, sind umfangreiche Erkenntnisse über die Täterseite. Und insbesondere mit der NSDAP, den Gliederungen der Partei und ihren jeweiligen Repräsentanten, habe ich quasi Neuland betreten.