Von Manfred Bechtel
Heidelberg. Mal war die Roulade unerwartet klein, mal das Schnitzel angeblich winzig und dünn wie Bierdeckel. Ein anderes Mal habe man die Pommes frites an den Fingern abzählen können. Dienstmädchen sagten aus, Restsuppe von Gästen werde in einen Topf geschüttet und wieder ausgegeben. Mit Salatresten werde ebenso verfahren.
Mit Ärgernissen dieser Art mussten sich am Ende die Behörden befassen. Die Niederschriften finden sich – gewissermaßen als Beilage – in den alten Gastronomie-Konzessionsakten. Das Amt für öffentliche Ordnung musterte nun einen Schwung aus und übergab 24 große Umzugskartons an das Stadtarchiv.
Volker von Offenberg, der mit seinem Buch "Prost Heidelberg!" bereits ein verwandtes Thema angepackt hatte, richtete daraus "Eine kleine Heidelberger ‚Wirtschafts‘-Geschichte" an. Dokumente aus privaten Beständen und Zeitzeugengespräche erweiterten und ergänzten den Blick in die Gaststuben. "Von der Concession zur Consumption" lautet der Titel seines neuen Buches. Zunächst betrachtet der Autor die "Concession", die Genehmigung der Betriebe durch die Behörde. Danach teilte er die "Consumption" ein in Kaffeehäuser, Weinstuben, Arbeiterkneipen und so weiter. Am Schluss stellt er zwölf Schmuckstücke der Gasthauskultur vor.
Sein Rundgang durch die vergangene Kneipenwelt beginnt mit den Ausflugslokalen. Lohnende Ziele in der näheren Umgebung hatte es schon länger gegeben, so den "Bierhelder Hof" oder den "Wolfsbrunnen", auch der Kohlhof hatte ein Gasthaus, das allen offen stand. Dann kam es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Boom neuer Ausflugslokale: "Speyerer Hof", "Molkenkur" und "Restauration Königstuhl" luden zur Rast. Auf der Neuenheimer Seite lockte am Südhang des Heiligenbergs die "Philosophenhöhe" mit einem traumhaften Blick auf Schloss, Brücke und Altstadt.
Unten, am nördlichen Neckarufer, konnte man im "Haarlass" und der "Stiftsmühle" unterhalb von Stift Neuburg einkehren. Sie waren noch nicht durch eine viel befahrene Straße vom Neckar getrennt. Oben auf dem Heiligenberg lädt noch heute die "Waldschenke" zum Verweilen ein, aber viele der einst populären Ausflugslokale gibt es nicht mehr. Status und Zukunft des Lokals "Alter Kohlhof" sind umstritten, das "Höhen-Restaurant Königstuhl" wurde vollständig abgerissen; hier wird ein Hotelneubau errichtet.
Wiener Kaffeehauskultur erreichte mit einiger Verspätung den Neckar. Seit 1863 gab es das "Café Ritzhaupt", später "Knösel", an der Ecke Untere Straße/Haspelgasse. Ein "Wiener Café" mit gehobenem Anspruch war das "Haeberlein" in der heutigen Friedrich-Ebert-Anlage 35. Als Christian Haeberlein eine Nachtkonzession für sein Lokal beantragte, befürchteten Polizei und Universität Ärger wegen Ruhestörung. Nur "versuchsweise" und befristet wurde die Verlängerung bis 2 oder 3 Uhr konzessioniert. Nach dem Ersten Weltkrieg trafen sich Intellektuelle und linke Studenten im "Café Krall", Hauptstraße 94 (heute "Schafheutle"). Im "Stadtgarten-Café" wurde das Publikum durch musikalische Darbietungen unterhalten.
Geschichte der Heidelberger Kneipenwelt - die FotogalerieMit Musik und Tanz wartete auch das beliebte "Cafasö", Hauptstraße/Ecke Fahrtgasse, auf; der Name des Cafés war gebildet aus den Anfangsbuchstaben von "Carl Faß & Söhne". An der Fassade zur Hauptstraße zog ein bunter, leuchtender Papagei die Blicke auf sich. 1971 meldete Heinrich Fass das "Cafasö" ab: Es wurde ein Opfer der "Altstadtsanierung". Sein Traditionshaus gehörte zum "Darmstädter Hof"-Areal, das die Stadt neu bebauen wollte. Ein Hauseigentümer nach dem anderen sah sich zum Verkauf genötigt. Dann wurde der ganze Block abgerissen.
Um 1900 gab es in Heidelberg 28 Weinwirtschaften. Wenige sind geblieben, immerhin gibt es den "Witter" hinten in der Hauptstraße noch. Zwar wird er heute nicht mehr von der Familie Witter geführt, aber die neuen Betreiber haben die ursprüngliche Einrichtung weitgehend belassen und den Stil der "Altdeutschen Weinstube", wie noch auf der Fassade zu lesen ist, beibehalten. Und der versteckt liegende "Florian" in der gleichnamigen Gasse strahlt den Charme der einstigen kleinen Weinstuben aus.
Auf eine jahrhundertelange Tradition kann das "Güldene Schaf", Hauptstraße 115, zurückblicken. Nach einer wechselvollen Geschichte übernahm 1973 der im Mai verstorbene Karl Kischka das einstige Stammhaus der Heidelberger Brauerei. Er gab dem Lokal ein neues Gesicht und gestaltete mehrere Themenräume: Jagdzimmer, Fürstenstube, Manesse-Saal. Im alten Gewölbekeller, in dem früher die Brauer ihre Fässer gelagert hatten, fanden mittelalterliche Gelage und Schützenfeste mit Armbrustschießen statt.
Vom seriösen Nachtlokal bis zur verrufenen Rotlicht-Kaschemme reicht die Bandbreite der Lokalitäten im Kapitel "Nachtleben". Studentisches Publikum frequentierte das "Cave 54", die "Tangente", die "Falle", in Handschuhsheim den "Tunnel" (später "Storyville"), oder in Bergheim den "Capi-Keller". Nicht zu vergessen die Szene in der Unteren Straße und die klassischen Nachtbars. Ein wichtiges Forum für die neue Musik, aber auch für politisch engagierte Diskussionen und Ausstellungen boten die Klubs. 1960 immerhin zehn an der Zahl.
Einem bislang wenig beachteten Thema widmet Offenberg das Kapitel "Arbeiterkneipen". In den engen Altstadtgassen wohnten Tagelöhner, einfache Handwerker, Neckar-Schiffer, Näherinnen und Tabakarbeiterinnen. Einen Ortsverein der Sozialdemokraten gab es seit 1869, ab 1890 das Gewerkschaftskartell. Treffpunkt war der "Goldene Römer", Hauptstraße 41. Zeitweise auch das "Gast- und Gewerkschaftshaus zur Carlsburg", Hauptstraße 53. Auch der "Goldene Stern" in der Lauerstraße und der "Rothe Löwe" in der Steingasse 16 waren als Arbeiterkneipen bekannt.
Um 1900 ließ sich nicht mehr übersehen, dass sich vor allem im Westen der Stadt um den Haupt- und den Güterbahnhof Industrie und Gewerbe ansiedelten. In der Folge entstanden in Bergheim und im Nordwesten der Weststadt auch Wohnquartiere. Hier bildete sich ein proletarisch geprägtes Milieu heraus. Arbeiter, Fuhrleute, Handwerker, Dienstmänner und Tagelöhner organisierten sich zunehmend. Gastwirtschaften mit sympathisierenden Wirten waren oft die einzige Möglichkeit für Versammlungen, die von den Behörden, der Polizei und konservativ-bürgerlichen Kräften misstrauisch beäugt wurden.
Umso wichtiger waren Wirtschaften für den Austausch von Informationen und den sozialen Zusammenhalt. Als typische Treffpunkte, in denen Industrie- und Bahnarbeiter ihr Bier tranken, galten die Kneipen "Zur Lokomotive", der "Storchen" und "Zum Güterbahnhof" – alle dicht beieinander in der Straße am Güterbahnhof. Nachdem 1914 der neue Güterbahnhof beim "Baggerloch" in Betrieb genommen wurde, kamen die "Friedensglocke" und der "Wilde Mann" in der Güteramtsstraße hinzu.
Nach dem Ersten Weltkrieg fanden die Gewerkschaften eine Heimat im "Artushof" in der Rohrbacher Straße/Ecke (der heutigen) Hans-Böckler-Straße. Von Beginn an war die "rote Burg" ein "Hassobjekt" für rechtsextremistische Kreise. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam das Ende: Am 1. Mai 1933 wurde das Gewerkschaftshaus von der SA besetzt und in der Folge von der Deutschen Arbeitsfront übernommen. Gewerkschafts- und SPD-Funktionäre kamen in "Schutzhaft" oder wurden in Lager verbracht.
Einheimische und Durchreisende jüdischen Glaubens konnten Speisen zu sich nehmen, die nach traditionellen rituellen Bestimmungen hergestellt wurden. Eine von mehreren koscheren Gastwirtschaften war das "Goldene Roß" (spaßeshalber "Zum koscheren Gaul" genannt) am Heumarkt 1.
Mit der "NS-Zeit und Krieg" und der "Entnazifizierung" befassen sich zwei Kapitel. Die 50er Jahre brachten einen Aufschwung, aber danach begann das "Kneipensterben", als man Fernsehen und Flaschenbier für die Unterhaltung in den eigenen vier Wänden hatte. Aus wirtschaftlichen Gründen war auch manches renommierte Hotel zur Aufgabe gezwungen, zum Beispiel der Darmstädter Hof am Bismarckplatz. Die Stadtpolitik trug ihren Teil zum Verschwinden historischer Häuser bei. Das gewachsene Quartier "Darmstädter Hof" wurde abgerissen. Ebenso das Engelbräu-Quartier im Winkel Ziegelgasse/Hauptstraße mit der Traditionskneipe "Goldener Engel".
Weitere Häuser fielen der Abrissbirne zum Opfer oder stellten den Betrieb ein. Andere haben es in die Jetztzeit geschafft, teils mit verändertem Ambiente. Auch wenn man ein wenig suchen muss, findet man noch Gaststätten, die ihre Tradition bewahrt haben. Ein gutes Beispiel für Gemütlichkeit nach alter Sitte ist der "Rote Ochsen" in der hinteren Hauptstraße. Dieses Lokal im studentischen Ambiente war stilgerechte Kulisse, als Volker von Offenberg seine "Wirtschafts"-Geschichte vorstellte.
Info: Volker von Offenberg, Von der Concession zur Consumption ... Eine kleine Heidelberger "Wirtschafts"-Geschichte. Hrsg. von Peter Blum. Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Heidelberg, Bd. 24. 112 Seiten. ISBN 978-3-95505-146-4. 17,90 Euro.