Von Denis Schnur
Heidelberg. Amar Singh wirkt wie die Ruhe selbst. Seit drei Stunden sitzt der Inder in einem Büro in einem schmucklosen Verwaltungsgebäude in Patrick Henry Village vor den Toren Heidelbergs. Mit kurzen Sätzen schildert der 29-Jährige, wie er aus Italien entkommen ist, wo man ihn zur Arbeit auf einer Schaffarm gezwungen habe. Und wie er vor dem gewalttätigen Onkel aus Indien geflohen ist. Dabei hätte der junge Mann allen Grund, nervös zu sein. Nicht nur wegen seiner beunruhigenden Geschichte oder den beiden Wespen, die seit Minuten durch das Zimmer summen und sich immer wieder dem Dreigespann aus Singh, der Übersetzerin und der Frau in der gestreiften Bluse nähern. Nein, vor allem, weil das Schicksal des jungen Mannes von diesem Gespräch abhängt. Nach dieser Anhörung wird entschieden, ob er in Deutschland Asyl erhält oder ob er das Land verlassen muss.
Denn genau das ist der Job von Frauke Meyer, die ihm gegenübersitzt, Fragen stellt und die Antworten in ihren PC hämmert: Meyer, blonde Haare, Ende 30, ist Entscheiderin. Eine von 93, die im Heidelberger Ankunftszentrum jede Woche über die Zukunft von Hunderten Asylsuchenden entscheiden. Eine von über 1000 bundesweit. Eine, die eigentlich anders heißt, aber nicht namentlich genannt werden möchte: "Es kommt auch vor, dass ich Entscheidungen treffen muss, die auf Unverständnis stoßen", erklärt sie.
Das Patrick-Henry-Village im Südwesten von Heidelberg. Foto: Kay Sommer
Denn ihre Entscheidungen verändern Menschenleben. Einigen ermöglichen sie einen Neuanfang in Deutschland, andere zwingen sie zur Rückkehr in ein Land, das sie hinter sich lassen wollten. Und den größten Teil zu diesen Entscheidungen trägt das Gespräch bei, das sie gerade mit Singh führt. "Ziel der Anhörung ist es, die individuellen Fluchtgründe zu erfahren, tiefere Erkenntnisse zu erhalten sowie gegebenenfalls Widersprüche aufzuklären", formuliert es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) - Meyers Arbeitgeber - in einer Broschüre. Kurz: Die Entscheider sollen herausfinden, ob Asylgründe vorliegen und ob der Antragsteller die Wahrheit sagt.
Der Weg dorthin sieht jedes Mal anders aus. Manchmal sind die Sitzungen in weniger als zwei Stunden beendet. "Ich habe aber auch schon sieben Stunden angehört", erklärt Meyer. Das hänge von Geschichte und Charakter des Asylsuchenden ab. Viele sind zunächst ängstlich - schließlich kommen sie aus Ländern, in denen sie selten gute Erfahrungen mit Behörden machen.
Dagegen soll auch die Einrichtung in Meyers Büro helfen. Auf dem Tisch steht eine Sonnenblume, in dem Wandschrank, den die US-Armee hinterlassen hat, ein Puppenhaus. Die Wand zieren Kinderzeichnungen: Neben einer Meerjungfrau winkt die "Hello Kitty"-Katze. Und von einem Plakat lächeln Menschen, dazwischen ein Zitat des ehemaligen Bamf-Präsidenten Manfred Schmidt: "Trotz ständig wachsender Herausforderungen verlieren die Mitarbeiter des Bundesamtes den Menschen und sein persönliches Schicksal nicht aus dem Blick."
Die ehemalige US-Kaserne Patrick Henry Village. Foto: Philipp RotheDie meisten Menschen, die Meyer gegenübersitzen, können den Satz nicht lesen. Schließlich kommen sie zu ihr, wenn sie erst wenige Wochen im Land sind. Es wirkt, als richte er sich eher an Meyer und ihre Kollegen. "Man muss immer die individuellen Sachverhältnisse in den Blick nehmen", sagt sie später in eigenen Worten. Und: "Wir entscheiden nicht am Fließband sondern über einzelne Schicksale von Menschen."
Das will sie auch an diesem Mittwoch im August bei dem jungen Mann in Jeans und Kapuzenpulli, der um 8.56 Uhr an dem Schild "Anhörung - Bitte nicht stören!" vorbeigeht und ihr Büro betritt. Dass Meyer schon vor der Anhörung weiß, dass Inder einen sehr geringen Anteil der Asylbewerber in Deutschland ausmachen (455 Anträge von Januar bis Juli 2019) und eine sehr geringe Anerkennungsquote haben (1,8 Prozent), soll sie nicht beeinflussen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass der junge Mann auch nach drei Stunden nicht viel redet. Auch die Versicherung, dass nichts von dem, was er sage, an Polizei oder Sicherheitsbehörden in Indien weitergegeben werde, bringt nicht viel. "Man kann ihn nicht zwingen, mehr zu sagen. Ich kann nur versuchen, durch gezielte Nachfragen mehr Informationen zu erhalten", sagt sie in einer Pause.
Aber Informationen braucht sie. Über seinen Fluchtweg - um zu wissen, ob Italien für ihn zuständig ist - und vor allem über seine Fluchtgründe. Deswegen fragt Meyer immer wieder nach Details seiner Flucht und seiner sechs Jahre in Italien. Wo er gelebt habe. Wie sein Tag ausgesehen habe. Was er gegessen habe.
Archivfoto: Rothe
So ergibt sich langsam ein vollständiges Bild: 2013 ist Singh - nachdem sein Vater gestorben war und sein Onkel ihn mehrmals verprügelt habe - mit dem Flugzeug nach Italien gekommen. Ein Schleuser hatte ihm für rund 10.000 Euro Visum und Flug besorgt, ihm Asyl versprochen. Vom Flughafen sei es jedoch in die Berge gegangen. Auf eine Schaffarm, wo Singh vier Jahre geschuftet habe. "Ich habe die Tiere versorgt, sauber gemacht, gekocht. Ich hatte ein monotones Leben."
"Der Farmer hat Sie gegen Ihren Willen festgehalten?", fragt Meyer und nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrem Thermobecher. "Yes", erwidert Singh auf englisch. Das Wasser vor ihm lässt er unangetastet. "Warum sind Sie nicht zur Polizei?", hakt Meyer nach. Bestimmt, aber freundlich. Sie will die Motive Singhs verstehen, wird bei möglichen Widersprüchen hellhörig. "Ich hatte Angst. Ich hatte ja keine Dokumente", antwortet der.
Auch wenn der junge Inder nur wenig sagt, drängt sich der Verdacht auf, dass er Opfer von Menschenhändlern wurde, die ihn als billige Arbeitskraft ausnutzten. Deshalb dauert die Befragung heute deutlich länger. Ein Kollege Meyers schaltet sich über einen Chat zu, der Fall wird später den italienischen Behörden gemeldet.
Für Singhs Asylantrag in Deutschland ist er jedoch unerheblich. Dafür zählt lediglich die Situation in seinem Heimatland. Und eine zentrale Aufgabe Meyers ist es herauszufinden, ob der Antragsteller tatsächlich der ist, "der er vorgibt, zu sein", wie sie es formuliert. Und ob er tatsächlich aus dem Ort kommt, den er angegeben hat.
Symbolfoto: dpa
Dafür hat sie eine Art Standardrepertoire: Fragen, die eigentlich nur Bürger eines Landes und Bewohner bestimmter Regionen direkt beantworten können: "Welches ist die nächstgrößere Stadt?", will sie von Singh wissen, als er sein Heimatdorf nennt. Und wie weit es bis dorthin sei. "Können Sie mir einen TV-Sender nennen, den man dort empfängt?", fragt sie danach. Der junge Inder gibt eine seiner wenigen ausführlichen Antworten, zählt rund ein Dutzend Sender auf. "Das würde mir reichen", unterbricht die Entscheiderin irgendwann, den Blick auf den Bildschirm geheftet. Denn parallel checkt sie die Antworten: "Recherchen im Internet sind teilweise schon sehr hilfreich."
Und die legen nahe, dass der Mann die Wahrheit sagt. Auch die Übersetzerin hält sein Punjabi für typisch. Dass Antragsteller über ihre Herkunft lügen, sei ohnehin die Ausnahme, so Meyer. Und es gebe gute Werkzeuge, das festzustellen: "Wir gehen nicht nach Gefühl. Es gibt Gesetze und Glaubhaftigkeitskriterien." Neben ihren Fragen etwa die Detailtiefe der Erzählungen oder Widersprüche. Meyer will aber auch nicht immer darüber nachdenken, ob ihr Gegenüber sie vielleicht belügt: "Ich versuche, den Gedanken wegzuschieben und unvoreingenommen zu sein."
In der Regel geht es ohnehin nicht darum, wie glaubhaft Asylsuchende sind. Bei denen, die kein Asyl erhalten, liegt es meist daran, dass sie keine Schutzgründe vorweisen können. Dass die Entscheider ihnen zwar glauben, jedoch nicht zu dem Schluss kommen, dass eine politische Verfolgung im Heimatland droht. Oder dass der Antragsteller in Gefahr ist, wenn er zurück muss.
Deswegen befragt Meyer Singh immer wieder zum Leben in Indien. Sie will verstehen, warum seine Mutter ihr Elternhaus verkauft hat, um ihm die Flucht nach Italien zu finanzieren. "Warum wollten Sie lieber nach Europa als in die nächstgrößere Stadt? Das habe ich noch nicht verstanden", fragt sie langsam und wartet auf die übersetzte Antwort. Erst jetzt erklärt der 29-Jährige, dass er als Anhänger des Sikhismus diskriminiert werde. "Haben Sie nicht in Erwägung gezogen, in andere Regionen Indiens zu ziehen?", will die Entscheiderin wissen und erklärt: "Städte wie Delhi und Mumbai sind offener für Sikh."
Symbolfoto: dpa
Doch auch nach zig Fragen und Nachfragen, nach mehr als fünf Stunden Anhörung, ist vieles nicht nachvollziehbar, steht auch die Entscheidung noch nicht fest. Klar ist nur: Singh will bleiben. Er hat Angst, in Indien wieder vom Onkel misshandelt zu werden: "Er würde mich schlagen, bis ich ihm mein Land gebe", ist er sicher. Meyer schaut ihn lange an, lässt sich aber kaum etwas anmerken. Mit "Sat Sri Akaal" verabschiedet sie den jungen Mann, nachdem sie die Übersetzerin gefragt hat, was "Tschüss" auf Punjabi heiße.
Auch nach einer solchen Mammutsitzung ist Meyer zufrieden mit ihrem Beruf und ihrem Arbeitsplatz in Heidelberg. "Die Kollegialität hier ist sehr groß, die Arbeitsbelastung in der Zeit der hohen Zugangszahlen hat zusammengeschweißt", weiß sie, auch wenn sie selbst erst 2018 herkam.
Die Debatte um die Verlegung des Ankunftszentrums verfolgt sie natürlich. Aber dass sie wohl nicht mehr lange an diesem Standort arbeiten wird, findet sie nicht schlimm. Schließlich sei sie für den Job ohnehin hergezogen. So gehe es vielen Kollegen, andere pendeln. Ein Umzug innerhalb der Region sei daher verkraftbar.
Eine weitere Reise steht vermutlich Singh bevor. Zwar steht nach der Anhörung noch nicht offiziell fest, wie es mit ihm weitergeht. Doch die Chancen für Asylbewerber aus Indien sind nunmal schlecht. Auch wenn der junge Mann glaubhaft und sympathisch ist. Familiäre Probleme und die schlechte Stellung der Sikh in weiten Teilen Indiens reichen in der Regel jedoch nicht als Asylgründe.
"Manchmal ist es auf jeden Fall hart", sagt die Entscheiderin nach der langen Sitzung. "Aber wir haben unsere rechtlichen Vorgaben und an die halten wir uns." Sympathie mit Antragstellern sei normal - und auch, dass deren Schicksale berühren. "Ich kann aber nachts schon noch schlafen", sagt sie. Und: "Ich lasse die Sachen hier. Man sollte sie auch nicht mit nach Hause nehmen." Zudem weiß Meyer zwar, dass sie über Schicksale entscheidet. Sie ist aber überzeugt, nicht über Tod und Leben zu entscheiden: "Ich lehne einen Asylantrag ab, wenn ich zu dem Ergebnis komme, dass dem Antragsteller im Herkunftsland keine Gefahr droht."