Ehemaliger Polizeibeamter glaubt nicht an 800 Übergriffe in der Silvesternacht
Alles nur "Trittbrettfahrer" in Köln?: Ein ehemaliger Polizeibeamter glaubt nicht, dass es in der Silvesternacht über 800 Taten in zwei Stunden gegeben hat

Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs in der Silvesternacht. Foto: Markus Böhm
Von Steffen Blatt
Heidelberg. Dass die Grünen und die Polizei ein schwieriges Verhältnis haben, ist wahrscheinlich noch untertrieben. Denn wer bei Demos gegen Wiederaufbereitungsanlagen, Startbahnen oder Castor-Transporte politisch sozialisiert wurde, der erlebt die Frauen und Männer in Uniform eher nicht als Freund und Helfer. Darum war es umso interessanter, dass sich die Heidelberger Grünen zu ihrer Mitgliederversammlung am Mittwochabend einen altgedienten Polizeibeamten ins Literaturcafé der Stadtbücherei eingeladen hatten.
Frank-Ulrich Seemann war 40 Jahre im Dienst und hat 2013 den Verein "Polizei Grün" mitgegründet, in dem sich Polizisten engagieren, die den Grünen nahe stehen. Bei der Versammlung sprach der 62-Jährige auch über die Ereignisse der Silvesternacht in Köln. Über 800 Anzeigen sind bisher bei der dortigen Staatsanwaltschaft wegen Sexualdelikten, Diebstählen oder Körperverletzungen eingegangen. Dass hinter jeder auch ein wirkliches Vergehen steht, bezweifelt Seemann, der im Enzkreis lebt. "Den vielleicht 500, die in den ersten Tagen nach Silvester eingegangen sind, schenke ich Glauben. Die anderen wird man sehr genau hinterfragen müssen. Da wird es noch manche Überraschung geben."
Er vermutet darunter einige "Trittbrettfahrer", die nicht wirklich angegangen worden seien. Selbst wenn man pro Tat nur zwei oder drei Minuten ansetze, hätten die Täter so viele Delikte in der Zeit von Mitternacht bis zwei Uhr gar nicht begehen können. "Das ist vom Ablauf her unmöglich", meint Seemann. Da hätte schon jeder der rund 1000 Männer auf dem Bahnhofsvorplatz übergriffig werden müssen, "aber das glaube ich nicht".
Was den ehemaligen Kriminalhauptkommissar ebenfalls stört, ist die "pauschale Kritik" an der Kölner Polizeiführung nach dem Einsatz. "Vor Silvester hat sich niemand so etwas vorstellen können. Das war ein Tsunami." Auf dem von Gebäuden umschlossenen Platz sei es schlicht unmöglich gewesen, aus einer Menge von bis zu 2000 Menschen diejenigen herauszuholen, die gestohlen oder Frauen bedrängt hätten. Hunde oder Pferde habe man wegen der Böller nicht einsetzen können. Eine Videoüberwachung würde in diesem Fall auch nicht helfen, "man erkennt schlicht nichts".
Von der geplanten Verschärfung des Sexualstrafrechtes hält Seemann ebenfalls wenig, Lücken müssten aber geschossen werden. Besser sei stattdessen mehr Personal bei Polizei, Gerichten und Staatsanwaltschaften, "damit die Fälle nicht ewig rumliegen". Wenn das Vorgehen in Köln verabredet gewesen sei, könne man in Richtung Bandenkriminalität ermitteln - "und dann werden die Strafen auch über eine Bewährung hinausgehen".