Von Julia Lauer
Heidelberg. Vielleicht geht Thomas Lehn noch in die Geschichte ein: als längster durchgehender Dialyse-Patient. Seit 1970, erzählt er bei einem Treffen in Heidelberg, und damit seit 50 Jahren schickt er sein Blut durch ein Gerät, das es reinigt und dann zurück in den Körper pumpt. Heute ist Lehn 64 Jahre alt. Er ist munter, unternehmungslustig, gesprächig – und das nach einem halben Jahrhundert externer Blutreinigung. Weil er sich sicher ist, dass nicht viele Menschen auf eine so lange Zeit fortwährender Dialyse zurückblicken können, hat er sogar das Guinness-Buch der Rekorde schon kontaktiert. "Dort verlangen sie einen lückenlosen Nachweis der Dialyse. Nachweisen kann ich aber nur 48 Jahre. Für die ersten beiden Jahre fehlen die Belege."
Thomas Lehn hat Urlaub, er ist aus Ingelheim in der Nähe von Mainz nach Heidelberg gekommen. Damit ist er an den Ort zurückgekehrt, an dem sein Leben eine neue Wendung nahm, um genau davon zu erzählen. Von Geburt an war er nierenkrank, im Alter von vier Jahren wurde eine Niere entfernt, später stellte auch die andere Niere ihren Dienst ein. Mit 14 Jahren kam er nach Heidelberg ans Universitätsklinikum, aufgedunsen, voller Giftstoffe und zeitweise blind. "In ganz Deutschland bot damals nur Heidelberg Dialyse für Kinder an. Ich wäre gestorben, wenn ich nicht ans Klinikum gekommen wäre."
Kurz zuvor hatte man in Heidelberg die ersten Erfahrungen mit der Kinderdialyse gemacht. Nur zwei Geräte für Kinder habe es damals in der chirurgischen Klinik gegeben, erzählt Lehn – seiner Schilderung nach waren auch sie nur ein Notbehelf. Die Ärzte hätten die Schläuche des Dialysegeräts gekürzt, erinnert er sich, damit sie auch für die kleineren Kinderkörper geeignet sein würden und sich nicht zu viel Blut auf einmal außerhalb ihres Körpers befände. "Damals war man vielerorts der Ansicht, Kinder hätten ohnehin keine Chance zu überleben, darum solle man sie nicht mit der Dialyse quälen," sagt Lehn. Anders in Heidelberg: Er war stationärer Patient in der Kinderklinik, die Blutwäsche war seine Rettung. Dreimal die Woche brachte ihn der Krankenwagen von dort aus in die Chirurgie, wo ihn die Ärzte und Schwestern für sieben oder acht Stunden mit dem Gerät verbanden. "Die Fahrt mit dem klapprigen Krankenwagen war eine Abwechslung im Klinikalltag", sagt Lehn im Rückblick.
1972 lernte er den jungen Mediziner Uwe Ikinger kennen, der bis heute in Heidelberg als Arzt tätig ist. Damals machte Ikinger seinen Facharzt in Urologie, aber bisweilen kam ihm auch die Aufgabe zu, die Dialysepatienten in der Chirurgie zu versorgen. Sein junger Patient vertraute ihm seine Venen aber erst nach gut einem halben Jahr an, wie sich Ikinger erinnert – und ebnete dem angehenden Facharzt damit auch den Zugang zu den anderen jungen Patienten. "Was bei Thomas durchging, war auch für andere akzeptabel", erzählt Ikinger. Eine Hürde war genommen. "Denn das Heikle bei der Dialyse ist die Punktion. Die Gefäße sollen nicht zu Schaden kommen", erklärt der Mediziner.
Auch Ikinger ist zu dem Treffen gekommen. Die beiden duzen sich, zu Lehns Heidelberger Zeit standen sie sechs Jahre lang regelmäßig in Kontakt, und auch später riss der Faden nie ab. Sie luden sich gegenseitig zu ihren Vorträgen ein, und als Lehn heiratete, war Ikinger Gast. "Er war wie ein großer Bruder für mich, außerdem fuhr er immer ein tolles Auto", erklärt Lehn trocken. Trotz all der Strapazen, trotz seiner ernsten Kindheit hat er offenbar weder seinen Humor noch seine Zuversicht verloren. "Lebe deinen Traum so lange du kannst", steht auf seiner Homepage.
Nachdem er aus der Heidelberger Klinik nach Gau-Algesheim zurückgekehrt war, kam an den dialysefreien Tagen ein Hauslehrer, Lehn machte Abitur, dann eine Lehre in Wieblingen. Seit ein paar Jahren sitzt er im Rollstuhl, seiner Lebenstüchtigkeit steht das nicht im Weg. Nach der Hochzeit baute er ein Haus, bis heute arbeitet er am Landesrechenzentrum Rheinland-Pfalz als EDV-Fachmann, ein Vollzeit-Job. Von alledem hielt ihn die Dialyse jedenfalls nicht ab, ebenso wenig von ausgedehnten Urlaubsreisen. "Das ist eine Frage der Organisation. Sobald der Dialyseplatz gefunden ist, wird die Reise gebucht."
Zweimal bekam Lehn eine Spenderniere angeboten. Einmal konnte sich der Transplantation nicht unterziehen, weil er sich einen Infekt zugezogen hatte, ein andermal entschied er sich dagegen, weil es ihm mit der Dialyse gut ging. Längst hatte er da schon ein Gerät zu Hause stehen, sodass er nicht mehr dreimal wöchentlich in die Klinik musste. Auch dass seine jungen Mitpatienten aus seiner Heidelberger Zeit die Transplantation vielfach nicht überlebt hatten, schreckte ihn ab. "Aber heute ist die Transplantation viel sicherer als vor 50 Jahren", sagt er. "Wenn ich bei den heutigen Möglichkeiten noch einmal als junger Mann in der Situation wäre, würde ich wohl die Transplantation versuchen", sagt er.
Weil er sich seit Jahrzehnten für Nierenkranke engagiert, wurde Lehn im vergangenen Jahr mit einem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Auch da war Mediziner Ikinger dabei. Mit der nächsten Einladung kann der Arzt rechnen, sobald das Coravirus Lehns Fest zum 50. Jahrestag seiner Dialyse zulässt. Denn die Planungen für die Feierlichkeiten laufen – Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde hin oder her.