Hardheim. (hs) Dienstag, 22. Oktober 1940. Am gestrigen Montag hatte das jüdische Laubhüttenfest, eine Art "Erntedankfest", geendet. Polizeidiener Fridolin Käflein ging von einem jüdischen Wohnhaus zum nächsten in Hardheim. Sein Auftrag: Alle Juden, es waren 17 Personen im Alter von 38 bis 79 Jahren, sollten sich binnen einer Stunde auf dem Schlossplatz einfinden. Verpflegung für maximal vier Tage sei mitzubringen, Handgepäck bis zu 50 Kilo erlaubt und dazu maximal 100 Reichsmark.
An diesem Morgen stand auf dem Schlossplatz, dort wo heute der Brunnen steht, ein Lkw bereit. Auf diesen sollten die Hardheimer Juden einsteigen. Weil aber alle neben ihrem "Handgepäck" auch noch Koffer und Kisten dabeihatten, wurden sie angewiesen, diese in den Durchgang des Schlosses zu stellen. "Das wird Euch nachgebracht", lautete die Information der ortsgewaltigen NS-Funktionsträger.
Ein älterer jüdischer Mann keuchte mit seinem schweren Koffer die heutige Schulstraße und die Treppe am Schulhaus hoch. Ein Hardheimer Junge, der die Mühen des älteren Mannes sah, wollte ihm den schweren Koffer tragen. Stattdessen traf ihn eine gehörige Strafpredigt eines NS-Funktionärs. Es bedürfe keinerlei Hilfe eines "rassisch höheren Ariers" für diese "minderwertigen" Juden.
Auf dem Schlossplatz selbst wurden die Hardheimer Juden unsanft auf den Militär-Lkw gehetzt. Tränen der Trauer und der Verzweiflung flossen reichlich. Hildegard Heim (verheiratete Wanitschek), damals sechs Jahre alt, kam zufälligerweise mit ihrer Mutter auf dem Schlossplatz vorbei. Und in ihren kindlichen Erinnerungen sind nur Scham, Schande und Mitleid erhalten geblieben, hatte doch die Mutter dem ärmsten Juden Simon und seiner Frau immer wieder Lebensmittel (vorwiegend Eier) zugesteckt, für deren Überleben. Nun sollte alles vorbei sein? Sie konnte es nicht begreifen.
Simon hatte als aktiver Teilnehmer im Ersten Weltkrieg seine Tapferkeitsauszeichnungen angelegt, in der Hoffnung, dadurch Gnade und Anerkennung bei den NS-Größen zu finden. Jetzt war er der ärmste Jude, der mit seiner gleichaltrigen 62-jährigen Frau lediglich von Almosen der Hardheimer und von einer kleinen Unterstützung von wöchentlich acht Mark von der Gemeinde und 15 Reichsmark vom jüdischen Wohlfahrtsverband lebte, nachdem die NS-Machthaber ihm die Gewerbeerlaubnis entzogen hatten. In einem armseligen Pappkarton war seine Habe verstaut.
Nicht anders erging es der Witwe Halle mit ihren zwei Töchtern Ernestine und Helene sowie dem Sohn Samuel, der ebenfalls mit hohen Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Sie lebten von einer kleinen Rente, weil weder die öffentliche Hand noch der israelische Wohlfahrtsverband eine Unterstützung leisteten.
Die Hardheimer Juden trafen auf weiteren Schicksalsgenossen in Heidelberg, wo ein Transportzug mit 1380 Personen zusammengestellt wurde und über Freiburg und Belfort in das unbesetzte Frankreich kam. Im Sonderzug waren auch 115 Personen aus zwölf Orten des Kreises Buchen, die aus Adelsheim, Bödigheim, Buchen, Eberstadt, Großeicholzheim, Hainstadt, Hardheim, Kleineicholzheim, Merchingen, Sennfeld, Sindolsheim und Walldürn kamen; unter ihnen auch die 17 Hardheimer. Insgesamt gingen sieben Sonderzüge aus Baden und zwei aus der Saarpfalz ab.
Die Fahrt dauerte drei Tage und vier Nächte und führte über Avignon sowie Toulouse nach Oloron-Sainte-Marie. Von dort – Gurs hatte keinen Bahnanschluss – kamen sie per Lkw-Transport in das französische Internierungslager "Camp de Gurs" am Fuße der Pyrenäen. Nach Meldungen an das Reichsicherheitshauptamts (RSHA) verliefen alle Transporte "reibungslos und ohne Zwischenfälle" und "von der Bevölkerung kaum wahrgenommen". Auf der Reise waren wegen Entkräftung schon einige ältere Menschen verstorben. Aber immerhin konnte Robert Wagner, der Gauleiter, von Baden nach Berlin melden, dass Baden als erster Gau im Reich "judenrein" sei.
Aber so einfach ging es nicht über die Bühne, denn das Vichy-Regime im unbesetzten Frankreich monierte mehrfach mündlich die unangekündigten Transporte und wandte sich sogar in einer Protestnote an die deutsch-französische Waffenstillstandskommission in Wiesbaden. Schließlich gab es weder ein Abkommen mit Frankreich über eine Deportation noch entsprechende Vereinbarungen im Waffenstillstandsabkommen vom 22. Juni 1940.
Das Lager Gurs war auf die neu ankommenden 6504 Deportierten völlig unvorbereitet, hatte eine schlechte Versorgung mit Lebensmitteln, katastrophale hygienische Verhältnisse und zudem kamen ungünstige Witterungsbedingungen wie Regen und Kälte hinzu, so dass nach dem Eintreffen weitere Menschen an Entkräftung und Krankheiten verstarben. Das führte schon im Winter 1940/41 zu einem ersten Massensterben infolge einer ruhrartigen Darmerkrankung. Eine ansteckende Hirnhautentzündung sowie eine sich ausbreitende Tuberkulose forderten weitere Opfer unter den Lagerinsassen.
Das Lager bestand aus 380 Baracken ohne Trennwände und teilweise ohne Fenster, in denen circa 50 bis 60 Personen untergebracht waren. Die Menschen mussten auf dem blanken Holzboden, der zum Teil auch noch morsch war, schlafen – und das in den Wintermonaten. Die Wege zwischen den Baracken waren unbefestigt, die Menschen sanken bis zu den Knöcheln in dem aufgeweichten Lehmboden ein. Toiletten waren nur unzureichend vorhanden.
Das Lager in Gurs hatte die französische Regierung ursprünglich für Zivilinternierte aus Spanien aufgebaut. Nun sollte es überraschend diese Menschen aus den Reichsgauen Baden und Saarpfalz aufnehmen. Weil Platz fehlte, wurden viele Insassen in Außenlager verlegt, zwar dort zu Zwangsarbeit herangezogen, aber nicht mehr den unmenschlichen Bedingungen wie im Lager Gurs ausgesetzt. Aufsicht und Verwaltung des Lagers oblag der französischen Verwaltung des Vichy-Regimes.
Aber auch in Gurs endete die Odyssee der Hardheimer Juden nicht. In der französischen Bevölkerung mehrten sich Widerstand und Unverständnis über die Judenpolitik Hitler-Deutschlands. Polizeiaktionen zur Verhaftung und zum Abtransport in Lager von Juden fanden durch französische Polizisten im besetzten Frankreich statt. Die Vichy-Regierung wollte aus Gründen der Staatsräson Deutschland nicht verärgern und leistete ebenfalls, wenn auch nur widerwillig, Hilfe. Mit dem Hinweis, die in den verschiedenen Lagern untergebrachten Juden "nach Osten evakuieren" zu wollen, stimmte die Regierung von Marschall Petain dem Abtransport der Deutschen aus Frankreich zu. Am 7. August 1942 ging der erste Zug mit 1000 Juden aus Gurs in das Sammellager Drancy bei Paris ab.
Das Lager Drancy bestand aus riesigen Betonbauten, die für billige Sozialwohnungen bestimmt, aber 1939 noch nicht fertiggestellt waren und die anfangs von den Deutschen zur Internierung französischer, dann britischer Kriegsgefangener benutzt wurden. Das Lager wurde von französischen Behörden bewacht, geleitet und verwaltet.
Dorthin kamen schließlich die restlichen vier Hardheimer zusammen mit 581 weiteren Juden, die Gurs überlebt hatten, um dann am 12. August mit dem Transport Nr. 18 nach Osten zu fahren. In diesem Güterzug mit 1007 Juden (darunter 613 Deutsche, 142 Polen, 128 Österreicher, 22 Russen und 19 Tschechen). Beim Eintreffen in Auschwitz wurden 233 Männer und 62 Frauen zur Arbeit selektiert; 712 Deportierte wurden sofort nach der Ankunft vergast. Im Jahr 1945 gab es nur noch elf Überlebende.
Bereits in Gurs starben die 79-jährige Jeanette Halle und ihr 48-jähriger Sohn Samuel. Abraham Selig starb mit 71 Jahren im Dezember 1940 in Gurs. Das gleiche Schicksal erlitten die "ärmsten Juden" von Hardheim, Sigmund Simon (62 Jahre) und seine zwei Jahre ältere Ehefrau Sara. Julius Sinsheimer (75) im November 1940 und seine Frau Ida (1941 mit 65 Jahren) starben ebenfalls in Gurs. Jakob Urspringer (1873 geboren) starb 1945 in einem Außenlager und wurde in Lourdes auf dem katholischen Friedhof begraben, während seine Frau Selma nach Auschwitz transportiert wurde und ihr Leben dort beendete.
Immerhin gelang es fünf Juden aus Hardheim, das Gräuel von Gurs zu überleben. Ihre Angehörigen konnten für sie ein Einreisevisum in die USA bekommen. Tragisch ist der Fall von Henriette Israel (geborene Sinsheimer). Ihre Tochter Herta Brauschweiger konnte 1941 zwar erreichen, dass sie nach New York ausreisen konnte. Die Mutter verstarb jedoch auf der Schiffsreise vor Schwäche. Ihr Leichnam wurde auf den Bahamas beigesetzt.
Die Hardheimer Juden fanden zusammen mit den anderen einen sinnlosen Tod, den ihnen die "braunen" Machthaber verordnet hatten. Sie waren nach Ansicht der Rassenlehre der Nationalsozialisten "menschenunwürdiges Leben".