Perfide und belastend: telefonische Betrugsversuche Krimineller an Senioren. Foto: Kreutzer
Weinheim. (keke) Gewalt als Mittel zur Durchsetzung persönlicher Interessen thematisiert schon die Bibel mit Kain und Abel. Dabei spielt es für die Opfer keine Rolle, ob es sich um eine vorsätzliche, eine im Affekt ausgeübte Tat oder "nur" um eine strukturelle Ausprägung von Gewalt handelt. Auch in der Pflege von Kranken, Hilfsbedürftigen oder Alten steht Gewalt nicht nur vor der Tür, sondern oft mitten im Raum. Schläge sowie subtile Formen körperlicher oder seelischer Misshandlung durch Pflegebedienstete oder Angehörige erfassen auch geschützte Lebensbereiche.
Die Schilderungen von Mitarbeiterinnen der "Alwine-Stiftung – Gewalt im Alter" kratzen lediglich an der Spitze des Eisbergs und verdeutlichen zugleich, wie schwierig es für Betroffene ist, sich Hilfen zu holen. "Die Scham ist groß, die Angst davor, sich und die Familie bloßzustellen", erklärt Sabine Besmehn gegenüber der RNZ. Besmehn ist eine der Mitstreiterinnen von Stiftungsbegründerin Martina Schildhauer. Gewalt an Senioren werde viel zu wenig in der Öffentlichkeit diskutiert, sagt sie. Die Stiftung wolle zur Aufklärung beitragen.
Zugleich gilt es, den Blick auf das Thema Gewalt weiterzufassen. So stelle nicht zuletzt die Corona-Pandemie die Gesellschaft auch hier vor neue Herausforderungen, hat Besmehn erfahren: "Gewalt zeigt viele Gesichter und hässliche Fratzen." Insbesondere in den Zeiten des Lockdowns habe es sich noch intensiver gezeigt, wie schnell eine Gruppe von Menschen "entmündigt" worden sei, um sie zu "beschützen" – und wie schnell auf der anderen Seite aus rüstigen Rentnern "Hilfsbedürftige" werden.
Neben "Gewalt" ist das Thema "Vereinsamung" präsent. Die Vertreter der Stiftung seien froh darüber, durch die eigene Beratungsstelle "Sicher und beschützt im Alter" über Kontakte zu verfügen, mit deren Hilfe eine telefonische Betreuung gewährleiste werden kann.
Die Ziele der Stiftung: Konkrete Hilfen anbieten, Projekte unterstützen und den gesellschaftlichen Diskurs anstoßen rund um tabuisierte oder bagatellisierte Themen wie "Gewalt im Alter" und "Altersarmut". "Mitmenschlichkeit, Solidarität und Zivilcourage sind nötig, um den Betroffenen eine Stimme zu geben", lautet Besmehns Forderung. Das Verhalten gegenüber Senioren müsse sich ändern, das mache sich auch an der Sprache fest.
In der Arbeit des Fördervereins "Leben mit Demenz Weinheim" zur Unterstützung von Menschen mit Demenz und betreuenden Angehörigen stehe das Thema "Schutz vor Überlastung" im Mittelpunkt, verdeutlichen dessen Vorsitzender Andreas Marg und seine Stellvertreterin Marlies Brinkmann. In Gesprächen mit Angehörigen werde deutlich, wie sehr sich die Kinder oder Ehepartner der Erkrankten überfordert fühlen.
Marg: "Sie beobachten bei sich, dass sie dann gereizt reagieren. Sich im Ton vergreifen, ihr Gegenüber anschreien, bei der körperlichen Hilfestellung fester als gewollt zupacken oder auch festhalten, um ein Dableiben zu erzwingen." Perspektivisch sehen Marg und Brinkmann die Aufgabe des Vereins vor allem darin, Entlastungsangebote auszubauen. Vorbeugend wirken zeitliche Erleichterungen durch Betreuungsgruppen, Tages- und Kurzzeitpflege, ebenso wie die inhaltliche Entlastung durch Pflegedienste und Haushaltshilfen. Nicht zu vergessen: der seelische Ausgleich, etwa durch den Austausch in Gesprächsgruppen.
Eine besonders perfide Form psychischer Gewalt gegen Ältere sieht Angelika Treibel, Leiterin der Fachberatungsstelle "BeKo Rhein-Neckar", im Trickbetrug: Wieder und wieder muss die Polizei über versuchte oder gar erfolgreiche Maschen wie den "Enkeltrick", "falsche Polizeibeamte" und Ähnliches berichten. Betroffene hätten herbe Verluste an Geld und Vertrauen zu beklagen – und müssten oft noch damit fertig werden, dass ihr Umfeld mit Unverständnis und Vorwürfen reagiert. Gerade Letzteres wiege oft schwerer als die Tat selbst, so Treibel.
Nicht selten beklagten sich Ältere in der AWO-Beratungsstelle darüber, wie respektlos die Gesellschaft sie behandle, berichtet wiederum Brigitte Bell von ihren Erfahrungen. Verletzt fühlten sich Senioren etwa dann, wenn sie in "Kleinkind-Sprache" angesprochen würden.
Partner und Pfleger als Täter?
Auf Statistiken beruft sich Professor Janina Steinert von der Technischen Universität München. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf globaler Gesundheit und Entwicklungsökonomie. Besondere Gefährdungen entstehen ihren Ausführungen zufolge für Frauen, wenn sie pflegebedürftig werden – während sich umgekehrt Verantwortungsgefühle verstärken, wenn Männer auf Pflege angewiesen sind: "Über neun Prozent der Frauen zwischen 60 und 74 Jahren erleben körperliche oder sexualisierte Gewalt, über 17 Prozent psychische Gewalt durch den aktuellen Partner." Bei den Frauen über 75 Jahre sind zwei bis drei Prozent von körperlicher oder sexualisierter Gewalt und knapp zehn Prozent von starker psychischer Gewalt durch den Partner betroffen. Hinzu kommt, dass viele auch in der Pflege Gewalt erleben. Dazu zählen die Verletzung des Schamgefühls, mangelhafte Ernährung, hygienische Verwahrlosung, Gewaltanwendung bei der Medikamentengabe, verbale Attacken, sexualisierte Gewalt und körperliche Angriffe.