Von Annette Steininger
Hirschberg-Großsachsen. Thilo Sekol ist bekanntermaßen kein Freund von "Flächenfraß". Schon beim Neubaugebiet "Sterzwinkel" brachte sich der heute 53-Jährige als Sprecher der Bürgerinitiative gegen die Bebauung ein. Es folgte ein Buch namens "..und Hirschberg ist dann weg?!", das hart mit dem Gemeinderat ins Gericht ging. Weitaus sachlicher ist sein neustes Werk "Der Flächenwahnsinn!?", bei dem der Großsachsener den zunehmenden Flächenverbrauch durch Neubau- und Gewerbegebiete kritisch aus ökonomischer Sicht unter die Lupe nimmt. Im RNZ-Interview geht er darauf ein, was seiner Meinung nach in diesem Bereich für Fehler passieren und was Kommunen anders machen könnten.
Herr Sekol, "Der Flächenwahnsinn!?" haben Sie Ihr Buch überschrieben. Warum sind denn Ihrer Meinung nach so viele Kommunen "wahnsinnig" interessiert an Neubau- und Gewerbegebieten?
Die Kommunen erhoffen sich dadurch, ihre Haushaltslöcher zu verringern. Sie machen die leider zu einfache Rechnung auf: Mehr Einwohner sind gleich mehr Einnahmen. Mehr Gewerbe sind mehr Arbeitsplätze und mehr Gewerbesteuereinnahmen. Dabei betrachtet man aber lediglich die Einnahmen- und nicht die Ausgabenseite. Es entstehen aber auch Folgekosten, beispielsweise durch Straßen und Kanalisation, die es auch instandzuhalten gilt. Richtig wäre, über den Ertrag pro zusätzlichem Einwohner beziehungsweise zusätzlichem Gewerbe zu diskutieren, zumindest aus ökonomischer Sicht. Das ist letztlich das Volumen, das der Gemeinde für Aufgaben verbleibt.
Sie versuchen ja, in Ihrem Buch zu verdeutlichen, dass vor allem die Folgekosten nicht berücksichtigt werden. Sie nennen am Beispiel Hirschberg für Verwaltungskosten pro Neubürger von 391 Euro im Jahr. Ist das nicht etwas zu hoch gegriffen?
Ich denke nicht, wenn man die aktuellen Personalkosten pro Einwohner betrachtet – etwa 3,5 Millionen bei 9950 Einwohnern, ergo 351 Euro pro Einwohner – und dazu noch einen Anteil Sachkosten addiert. Je mehr Bürger in einer Kommune leben, desto mehr Verwaltungsaufwand gibt es. So arbeiten beispielsweise in Heidelberg mehr Verwaltungsangestellte als in Hirschberg.
Auch für den Erhalt der Infrastruktur legen Sie die Messlatte ziemlich hoch: Über drei Millionen Euro sollte Hirschberg hierfür Jahr für Jahr einplanen. Halten Sie das für realistisch?
Die Verwaltung hat für das Baugebiet "Sterzwinkel" mit Hilfe der Lösung "fokos bw" Folgekosten in Höhe von 80.000 Euro pro Jahr für das sieben Hektar große Areal berechnet. 80.000 Euro bei sieben Hektar bedeuten vereinfacht 3,5 Millionen Euro pro Jahr bei 307 Hektar, was die Siedlungs- und Verkehrsfläche für ganz Hirschberg ist. Fakt ist: Die Kommune bildet keine entsprechenden Rücklagen; künftige Generationen werden weniger Handlungsspielraum im Haushalt haben. Allein für den "Sterzwinkel" fehlen nach zehn Jahren Rücklagen in Höhe von 800.000 Euro.
Hirschberg musste dieses Jahr und im vergangenen Haushaltssperren erlassen und Nachtragshaushalte verabschieden. Sehen Sie sich da bestätigt?
Es ist bemerkenswert, dass der Gemeinderat den Haushalt zunächst verabschiedet und dann ein Defizit feststellt, zufällig erst dann, nachdem der alte Bürgermeister weg ist. Und das trotz vorhersehbarer Ereignisse. Es fehlt ein kaufmännisches Vorsichtsprinzip. Auch ist ein kritisches Hinterfragen der Zahlen nicht erkennbar. Verantwortungsbewusste Aufsichtspflicht sieht anders aus. Ein Börsenunternehmen wäre in diesem Fall ganz schnell abgestraft worden, der Vorstand eventuell ausgewechselt.
Wenn also Neubau- und Gewerbegebiete kaum zusätzliche Einnahmen bringen, wie sollen die Kommunen denn in der aktuell eh schon schwierigen Zeit an Geld kommen?
Unter der derzeitigen kommunalen Finanzierung ist das kaum zu bewältigen. Dies hängt mit dem kommunalen Finanzausgleich zusammen und dem wenig durchgeführten nachhaltigen Denken. Auch mangelt es an einem vollständigen Verständnis der kommunalen Finanzierung. Bei Neubaugebieten wird zum Beispiel oft nicht berücksichtigt, dass es ja auch Konsequenzen für die soziale Infrastruktur gibt. Kindergärten müssen erweitert oder gebaut, Parkplätze geschaffen werden.
Wie sollen die Kommunen nun aber an Geld kommen?
Sicher nicht durch Flächenexpansion, sondern durch effiziente Nutzung von vorhandenen Potenzialen. Derzeit gibt es etwa 170.000 Hektar an Brachflächen in Deutschland, sicher nicht alle an attraktiven Standorten. Es muss konsequent über eine Revitalisierung der Brachflächen und Innenverdichtung nachgedacht werden. Kreativität ist gefragt. Warum zum Beispiel nicht einfach Parkraum überbauen. Das wäre doch vorstellbar, beispielsweise bei den Supermärkten in Hirschberg oder Sportplätzen. Münchens Dantebad ist ein positives Beispiel. Durch Aufstockung, Innenverdichtung und Brachflächenrevitalisierung werden bestehende Infrastrukturen genutzt, es entstehen weniger Investitions- und Folgekosten.
Es dürfte Sie bestimmt gefreut haben zu hören, dass Hirschberg Leerstände erfassen möchte?
Ja, das ist endlich ein guter Ansatz. In anderen Kommunen gibt es sogar Leerstands-Manager. Ein kostenloses Tool zur Erfassung von Leerständen bietet auch die Metropolregion Rhein-Neckar schon seit Jahren an. Ferner gibt es kostenlose Folgekostenrechner. Man kann viel im Vorfeld analysieren, wenn man will und Klima- und Bodenschutz ernst nimmt.
In Hirschberg sind beide Themen gerade aktuell: Neubaugebiet und Erweiterung des bestehenden Gewerbeparks. Sehen Sie diese Entwicklung mit Sorge?
Absolut. Wenn man den Flächennutzungsplan des Nachbarschaftsverbandes Heidelberg-Mannheim richtig analysiert, sieht man, dass der Bedarf gar nicht da ist, weil Konversionsflächen in Heidelberg, Mannheim und Schwetzingen nicht vollständig berücksichtigt sind. Wir kommen rechnerisch ohne Flächenexpansion für Neubaugebiete aus. Durch die falsche Steuerung und mangelnde Ordnungspolitik ist es aber verständlich, dass es zwischen Kommunen einen Wettbewerb um Unternehmen und Neubürger gibt. Eben wegen der genannten Vorstellungen von mehr Einnahmen. Aber: Ein Gewinn an Arbeitsplätzen an einem Ort ist oft ein Verlust an Arbeit an anderen Orten. Das erzeugt mehr Pendler und damit mehr Verkehr, also mehr Kosten. Außerdem: Benötigen wir derzeit überhaupt mehr Bürofläche? Stichwort "Corona" und Homeoffice. Die Welt wandelt sich gerade. Wenn Hirschberg keine Haushaltsdefizite hätte, würde die Gemeinde eine Gewerbepark-Erweiterung angehen? Das Problem ist eine falsche Verteilung von Einnahmen und wirtschaftlicher Stärke. Das kann aber nicht lokal gelöst werden, schon gar nicht mit Flächenexpansion. Dafür ist Boden zu kostbar.
Werden Sie sich auch aktiv in den Wahlkampf zum Bürgerentscheid hinsichtlich der Gewerbepark-Erweiterung miteinbringen?
Es ist wichtig, dass Transparenz auf den Tisch kommt. Dass jeder Bürger versteht: Was sind die wirtschaftlichen und ökologischen Konsequenzen? Ich gehe davon aus, dass es plus/minus Null für Hirschberg ausgeht, wenn nicht sogar ein leichter Verlust herauskommt. Was würde die Gewerbepark-Erweiterung für den ohnehin schon starken Verkehr bedeuten? Dann sollte man auch mal schauen, ob ich die Unternehmen mit ihren Bedürfnissen nicht innerorts unterbringe. Sind das Firmen, die in den Gewerbepark wollen, die Büro- oder doch Produktionsgebäude brauchen? Mit all diesen Fragen sollte man sich beschäftigen, bevor man eine Entscheidung trifft. Der Gemeinderat ist mit dem Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan schon ins Verfahren gestartet; das Bürgerbegehren ist jetzt die einzige Chance, noch mal die Reset-Taste zu drücken. Ich selbst werde mich mit sachlichen Argumenten einbringen und sicher auch mal den einen oder anderen Vortrag halten. Parolen ohne fundierte Basis bringen uns im Diskurs nicht weiter.
Ihr Buch ist ja aus Ihrer Promotion heraus entstanden. Warum haben Sie jetzt noch promoviert?
Mich beschäftigt das Thema "Wirtschaftlichkeit" von Flächen schon seit dem Neubaugebiet "Sterzwinkel". Es ist wichtig, diesen Bereich aus der Controlling-Perspektive zu betrachten. Ich habe einen interessierten Wissenschaftler als Doktorvater überzeugen können, der noch viele weitere Aspekte in die Sichtweise eingebracht hat wie zum Beispiel die "soziale Nachhaltigkeit". Es hat mich einfach gereizt, noch tiefer in die Materie einzutauchen. Es gibt eine Menge an Literatur, die besagt, dass es für Kommunen eher schwierig ist, durch Flächenexpansion wirtschaftlich zu profitieren.
Info: "Der Flächenwahnsinn?!: Was bei Siedlungsexpansionen falsch läuft und was wir ändern müssen" von Thilo Sekol; erschienen im Cuvillier Verlag. Preis: 34,90 Euro als Taschenbuch, 24,90 Euro als Ebook.