Keine Raser und Drängler

Warum Ameisen nicht im Stau stehen und was Menschen lernen können

Mit neuen Technologien scheint dieses Ziel nun aber doch noch in erreichbare Nähe zu rücken.

30.07.2022 UPDATE: 31.07.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 49 Sekunden
Gemeinsam ans Ziel: Raser und Drängler gibt es bei Ameisen nicht. Foto: Getty

Von Christian Satorius

Toulouse/Nagoya. Warum wir Menschen überhaupt im Stau stehen, weiß die Verkehrsforschung schon lange. Baustellen und Unfälle stehen ganz vorne auf der Liste der Hindernisse, die den Verkehrsfluss behindern und einen Stau verursachen können. Besonders interessant ist allerdings der sogenannte Stau aus dem Nichts heraus. Jeder von uns kennt das: Plötzlich stockt der Verkehr ohne jeglichen ersichtlichen Anlass. Keine Baustelle, keine Fahrbahnverengung, kein Unfall. Es kommt zu Stop-and-Go-Wellen und schließlich zum Stau. Aus genauso unerklärlichen Gründen löst sich dieser dann später auch wieder auf.

Wie ein solcher mysteriöser Stau entstehen kann, hat ein japanisches Wissenschaftlerteam erforscht und dabei entdeckt, was wir Menschen falsch machen. Die Physiker und Mathematiker um Yuki Sugiyama von der Universität in Nagoya schickten ihre Versuchspersonen mit einer klaren Vorgabe in die Experimente. Die Fahrer wurden instruiert, dem vorherfahrenden Fahrzeug in der gleichen Geschwindigkeit, nämlich 30 km/h, zu folgen und dabei den Sicherheitsabstand einzuhalten, der beim Start für alle Fahrzeuge gleich war. Dann schickten die Wissenschaftler unterschiedlich viele Fahrzeuge in mehreren Durchgängen ihres Experiments auf einen 230 Meter langen Rundkurs. Was sich einfach anhört, stellte sich allerdings als problematisch heraus.

Hintergrund

1. Ameisen gibt es (fast) überall: Auf der ganzen Welt gibt es mehr als 20.000 verschiedene Ameisenarten. Die kleinen Tierchen passen sich fast jedem Klima an, nur in sehr kalten Gebieten wie der Antarktis gibt es sie nicht. Dafür leben Ameisen besonders gerne in warmen

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1. Ameisen gibt es (fast) überall: Auf der ganzen Welt gibt es mehr als 20.000 verschiedene Ameisenarten. Die kleinen Tierchen passen sich fast jedem Klima an, nur in sehr kalten Gebieten wie der Antarktis gibt es sie nicht. Dafür leben Ameisen besonders gerne in warmen Regionen wie im Dschungel oder in der Wüste. Bei uns in Deutschland gibt es rund 200 Ameisenarten, einige davon findet man in Wäldern.

2. Ameisen halten den Wald gesund: Ameisen bauen pausenlos an ihren Nestern und lockern so den Waldboden auf. Damit versorgen sie neue Pflanzen mit Sauerstoff und helfen ihnen beim Wachsen. Weil Ameisen die Samen von Wildblumen aufsammeln und in ihre Nester tragen, sorgen sie außerdem dafür, dass es immerzu blüht und im Wald schön bunt ist.

3. Ameisen sind die Gesundheitspolizei: Ja, Ameisen fressen auch andere Tiere. Natürlich werden sie auch selbst gefressen und nehmen dadurch einen wichtigen Teil in der Nahrungskette ein. Sie selbst mögen am liebsten Samen, ernähren sich aber auch von anderen Insekten, die Bäumen schaden. Dadurch sorgen sie dafür, dass die Bäume gesund bleiben. Ameisen beseitigen aber auch tote Insekten, die sie in ihre Nester tragen und dort an ihre Larven verfüttern.

4. Ameisen sind gastfreundlich: Zu anderen Tieren sind Ameisen nett und höflich – solange sie sich so verhalten wie Ameisen. Es gibt Käfer- und Fliegenarten, die gelernt haben, sich wie Ameisen zu benehmen. Mit diesem Wissen ziehen sie als Untermieter in Ameisenhügel ein. Kein Wunder: Dort ist es immer warm, und Nahrung ist auch immer da. Die Ameisen dulden die anderen Tiere – und geben ihnen manchmal sogar zu essen.

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Auf den Videoauswertungen zeigte sich später, dass der Verkehr nur zu Beginn problemlos floss. Nicht allen Fahrern gelang es nämlich, ihre Position wirklich exakt einzuhalten und so änderte sich der Sicherheitsabstand, aber auch die Geschwindigkeit einiger Fahrzeuge schon nach nur wenigen Minuten geringfügig. Manche Fahrzeuge mussten deshalb langsamer werden, um ihren korrekten Sicherheitsabstand zum vorherfahrenden Fahrzeug einhalten zu können, andere schneller. Auf diese Weise bildeten sich nach kurzer Zeit Fahrzeuggruppen, an deren hinterem Ende die Fahrer bremsten, um nicht zu dicht auf das vorherfahrende Fahrzeug aufzufahren. Die vorderen Fahrzeuge versuchten hingegen, die verlorene Geschwindigkeit wieder aufzuholen und beschleunigten stärker, sodass Stop-and-Go-Wellen entstanden, die sich mit einer Geschwindigkeit von circa 20 Stundenkilometern entgegen der Fahrtrichtung ausbreiteten.

Auf diese Weise entstand ein Stau praktisch aus dem Nichts heraus, ganz ohne konkreten Anlass wie Baustellen oder Unfälle. "Wir konnten zeigen", resümiert Sugiyama dann auch die Ergebnisse der Studie, "dass ein Verkehrsstau auch ohne einen Flaschenhals entsteht." Mit anderen Worten: Die Experimente der japanischen Wissenschaftler belegen, dass Staus auch ganz ohne Hindernisse entstehen können, allein nur durch Trödler und Raser.

Aber können es die Ameisen besser? Das untersuchte ein internationales Forschungsteam um Laure-Anne Poissonnier von der Universität von Toulouse in Frankreich. In ihren Experimenten verbanden die Wissenschaftler ein Ameisennest über eine künstliche Brücke mit einer Futterquelle, sodass die Tiere nur über diese kleine Brücke an ihr Futter gelangen konnten. Dann ließen sie unterschiedlich große Populationen Argentinischer Ameisen (400 bis 25.600 Tiere) über diese Brücke zum Futter und wieder zurück zum Nest laufen, während sie die Breite der Brücke veränderten und zwar von 5 auf 10, dann noch auf 20 Millimeter.

Wenn Autos lernen, miteinander zu kommunizieren, dann könnten einige Staus vermieden werden. Daran arbeiten Forscher gerade.

Die Ergebnisse der insgesamt 170 Experimente sind interessant. Es zeigte sich nämlich, dass der Verkehrsfluss auf der Brücke selbst dann nicht ins Stocken geriet, wenn 80 Prozent der Brückenoberfläche mit Ameisen bedeckt war. Den Wissenschaftlern zufolge waren die Ameisen damit in Sachen Stauvermeidung doppelt so effektiv wie wir Menschen.

Hinter das Erfolgsgeheimnis der Ameisen kamen die Forscher mit ihren Versuchsreihen auch. Es zeigte sich, dass alle Ameisen mit ein- und derselben Geschwindigkeit liefen, Trödler und Drängler gab es nicht. "Die Ameisen passen ihr Verhalten den veränderten Bedingungen an", fasst Poissionnier die Forschungsergebnisse zusammen. Andere Forscher kamen in ihren Studien mit Ameisen übrigens zu ähnlichen Ergebnissen.

Wenn es auf einer Ameisenstraße voll wird, überholt keiner, keiner trödelt, keiner drängelt, vielmehr passen die Tiere ihre Geschwindigkeit einander an. Vielen Verkehrsforschern nach besteht allerdings genau hierin auch der große Unterschied zu uns Menschen: Bei uns wolle jeder schneller sein als der andere und als Erster im Ziel ankommen. Egoismus sei bei uns Trumpf, ganz im Gegensatz zu den Ameisen, die sich als ein großes Team begreifen würden.

Somit ließe sich aber leider auch das Erfolgsgeheimnis der Ameisen nicht so einfach auf unsere Autobahnen und Landstraßen übertragen. Davon gingen viele Forscher zumindest lange Zeit aus. Doch mit neuen Technologien scheint dieses Ziel nun doch noch in erreichbare Nähe zu rücken. Wenn die Fahrzeuge nämlich untereinander kommunizieren und sich gegenseitig warnen und abstimmen würden, dann ließe sich wohl in der Tat so mancher Stau vermeiden. Diese Car-to-Car-Kommunikation ist keine Zukunftsmusik, sondern wird zur Zeit mit Hochdruck erforscht. Die Ameisen haben uns in Sachen Stauvermeidung also in der Tat etwas voraus, aber wir Menschen holen auf. Wenn das keine gute Nachricht ist.