Immer mehr Eltern lassen IQ-Test bei ihren Kindern machen
Und hoffen auf einen hohen IQ - Tatsächlich ist der Nachwuchs heute klüger als es die Eltern im gleichen Alter waren - Intelligenz als Prestigeobjekt

Von Fauke Gans
Marburg. Emil war gerade vier Jahre alt, als er seiner Familie in einem Restaurant die Speisekarte vorlas – in zwei Sprachen und mit unterschiedlichen Alphabeten: auf Deutsch und Griechisch. Zur Verblüffung seiner Eltern konnte er auch in beiden Sprachen schreiben. Wieso der junge Heidelberger das beherrschte, wusste er nicht. Pädagogen drängten die Eltern, den Jungen vorzeitig einzuschulen. Ergebnis: ein täglich an der Schulpforte weinender Emil, der emotional zu jung für die Schule war, und verzweifelte Eltern. Eine Psychologin riet zum Test. Das Resultat: Hochbegabung.
Hintergrund
Intelligenzumfasst die kognitiven Fähigkeiten des Menschen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Abstraktion und Merken. Sie steigt bis zum 16. Lebensjahr konstant zum Alter an. Danach verändert sich die Leistungskurve nur noch geringfügig.
Der Intelligenzquotient ist ein
Intelligenzumfasst die kognitiven Fähigkeiten des Menschen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Abstraktion und Merken. Sie steigt bis zum 16. Lebensjahr konstant zum Alter an. Danach verändert sich die Leistungskurve nur noch geringfügig.
Der Intelligenzquotient ist ein Wert, der die Intelligenz des Einzelnen am Durchschnitt der Gesamtbevölkerung misst. Wer sich plus/minus zehn Punkte um den IQ von 100 bewegt, gilt als durchschnittlich intelligent. Als hochbegabt gelten Menschen ab einem IQ von 130.
Intelligenztests werden in vielen Lebensbereichen als Instrument eingesetzt, um die geistigen Fähigkeiten eines Menschen auszuloten. Einer der am häufigsten eingesetzten Tests für Erwachsene und Kinder ist der Wechsler-Intelligenztest mit Aufgabenstellungen wie Bilderergänzen, Wortschatz-Test, Zahlen-Symbol-Test, Rechnerisches Denken oder Allgemeines Wissen. IQ-Tests werden hauptsächlich von Psychologen durchgeführt. Deutschlandweit bietet auch der Hochbegabtenverein "Mensa" Intelligenztests an, zu denen sich Erwachsene und Jugendliche ab 14 Jahren anmelden können (www.mensa.de).
Die Lehrer reagierten, beschäftigten Emil mit Extraaufgaben oder ließen ihn im Unterricht vor sich hin träumen. Das Kind war wieder fröhlich. Doch wollten die Eltern ihre Sorgen anderen anvertrauen, stießen sie auf Reaktionen wie: "Meiner konnte auch schon früh lesen und malt einwandfrei Autos, seit er vier ist. Vielleicht sollten wir ebenfalls einen Test machen." Intelligenz ist zum Prestigeobjekt geworden. Als Aushängeschilder der gehobenen Mittelklasse gelten aktuell SUV, sanierte Altbauwohnungen und hochbegabter Nachwuchs. Während Hochbegabung noch in den 90ern eher kein Thema war, wähnen mittlerweile viele einen Schnelldenker à la Sheldon Cooper im eigenen Haus. Das Wunderkind aus der Fernseh-Comedy-Show "The Big Bang Theory" hat einen IQ von 187.
Gibt es heute vielleicht tatsächlich mehr Hochbegabte? Detlef H. Rost, Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Philips-Universität Marburg, ist Leiter der begabungsdiagnostischen Beratungsstelle "Brain". Er sagt: "Die Zahl der Menschen mit einem IQ über 130 ist heute die gleiche wie vor 20 Jahren. Es sind rund zwei Prozent der Bevölkerung." Wobei dieser Grenzwert von 130 Definitionssache sei und zudem je nach Tagesform schwanken könne. Das heißt, ob 125, 130 oder 135: Alle könnten eventuell gleich fix denken, aber zur Testzeit unterschiedlich fit gewesen sein.
"Tatsächlich sind unsere Kinder allerdings schlauer als wir früher. Nutzten wir Tests von damals, zählen weit mehr als hochbegabt", so Rost. Nach alten Maßstäben heute überprüfte Kinder schnitten – je nach Alter des Tests – um zehn bis 15 Punkte "zu gut" ab. Was mit ein Grund sein könnte, wieso Eltern ihren Nachwuchs für außerordentlich intelligent halten: Er ist faktisch klüger als sie im gleichen Alter. Darum werden Tests regelmäßig "nachgeeicht".
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Der Wunsch, intelligenter zu sein als der Durchschnitt, ist so stark, dass immer mehr Eltern in Beratungsstellen wie "Brain" kommen, um ihren Nachwuchs testen zu lassen. "Manchmal müssen wir Eltern von einem sehr hohen Ross herunterholen", sagt Dr. Rost. "Da gab es schon Tränen und Pöbeleien, selbst wenn wir feststellen, dass das Kind überdurchschnittlich intelligent ist, aber den 130er-Wert nicht erreicht." Oft sei der Druck auf die Kinder enorm. Rost berichtet von einem Jungen, der angab: "Meine Mitschüler behindern mich in meiner kognitiven Entwicklung." Auch Kinder mit auffälligem Verhalten tauchten immer öfter in der Beratungsstelle auf. Dann führen die Eltern schlechte Noten oder Rabaukentum auf eine eventuelle Hochbegabung zurück. "Underachievement" – wenn man trotz überdurchschnittlicher Intelligenz unter seinen Möglichkeiten bleibt – klingt besser als: Mein Kind ist zu faul!
Die Mär, Menschen mit hohem IQ verhielten sich abnorm, hält sich hartnäckig. "Dieser Eindruck entsteht nur, da hauptsächlich Kinder mit Problemen getestet werden", erklärt Detlef Rost. Hochbegabte ohne Schwierigkeiten müssen keinem Psychologen vorgestellt werden, es besteht kein Anlass, ihren IQ-Wert zu ermitteln."
Langeweile in der Schule sei ebenfalls kein Indiz für Hochbegabung, sondern allenfalls für schlechten Unterricht. Auch wer nur Einsen schreibe, gehöre nicht notwendigerweise in die Kategorie "superschlau". Durch intensives Lernen könne man ebenfalls gute Noten erreichen. "Ein Test ist dann nötig, wenn Eltern und Lehrer überlegen, das Kind eine Klasse überspringen zu lassen. Denn ist es nur fleißig, würde es dann an der schieren Masse des Stoffs scheitern." Auch frühes Lesen sei kein zuverlässiger Anhaltspunkt für eine Hochbegabung. Trainierten Eltern mit ihren Kleinkindern, Buchstaben zu erkennen, lerne der Nachwuchs logischerweise jung lesen. "Das Besondere an Hochbegabten ist aber, dass sie sich oft nicht erinnern, woher sie ihr Wissen haben. Es passiert quasi ‚aus Versehen‘."
Emils Mutter vertraut inzwischen nur noch selten anderen das Testresultat an; die Reaktionen waren zu oft negativ. Sie suchte Rat unter Betroffenen. Aber: "In Hochbegabtenforen brauchen Neuankömmlinge gute Nerven, alte Onlinehasen vermuten hinter ihnen erst mal Möchtegernkluge." Doch in puncto Schweigen seien sie sich einig: Die Erfahrung habe sie gelehrt, nicht mit anderen über den hohen IQ ihrer Kinder zu reden.
Doch wann und wodurch wurde Intelligenz zum Prestigeobjekt? Warum gilt man ohne Abitur als abgehängt? Detlef Böhme, Gründer der Heidelberger Akademie für hochbegabte Kinder, meint: "Eventuell hat die Abschaffung der Meisterpflicht dazu beigetragen. Der Meistertitel für Handwerker hatte Prestige. Ohne diesen gibt es im Handwerk keinen Orientierungspunkt, auf den man hinarbeiten kann."
Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Das sieht auch Diplom-Psychologin Daniela Kreitz so. Sie unterrichtet in Heidelberg angehende Erzieher und meint: "Ich denke, es hatte alles mit guten Intentionen begonnen. In Pekip-Gruppen sollten sich Eltern austauschen und Babys miteinander tollen können. Leider wurde daraus ein Wettbewerb, wer sich schneller auf den Bauch dreht oder sitzen kann. Simple Entwicklungsschritte werden heute genau beäugt und bei Erfolg entsprechend gefeiert." Unter diesem Druck könnten Eltern das Gefühl haben, ein detailliert gemaltes Feuerwehrauto spiegele das versteckte Genie des Kindes wider.
Hinzu kommt: Da heute die meisten Eltern nicht mehr so viele Kinder bekommen wie früher, sind die Erwartungen höher: Das Kind wird zum Projekt. Mit der Einschulung steige der Druck und auch Daniela Kreitz glaubt, die Pisa-Panik sei ungefiltert erst an die Eltern und dann an die Kinder weitergegeben worden. In der Folge sei das Gefühl entstanden, ein hoher IQ stehe für finanzielle Sicherheit, Leistung und eben Prestige.
Ein Wert über 130 wird aber nur bei zwei von hundert Testpersonen festgestellt. Und genau deshalb besteht für die 98 Prozent der Weltbevölkerung unterhalb der 130er-Grenze auch gar kein Grund zur Sorge.