Wie gut (oder schlecht) die EM- und WM-Fußballsongs sind
Zeitlos oder zum Vergessen? Zwei echte Experten prüfen die Qualität bekannter EM- und WM-Songs.

Von Daniel Schottmüller
Herbert Grönemeyer beschreibt es so: "Du fühlst, du glaubst, du fliegst – du fliegst". Die Sportfreunde Stiller entscheiden sich, bodenständiger, für das "Herz in der Hand" und die "Leidenschaft im Bein". Nein, es ist nicht einfach, die Faszination Fußball in Worte zu fassen. Davon können Musiker von Peter Alexander bis David Guetta ein Lied singen.
Trotzdem fordern Veranstalter und Sponsoren alle zwei Jahre Hits ein, um potenzielle Zuschauer auf die nächste Europa- oder Weltmeisterschaft einzustimmen. Die Ergebnisse sind zum Teil kurios.
Während Dario G 1998 im wahrsten Sinne des Wortes auf Pauken und Trompeten setzten, beschloss Shakira bei ihrem 2010er WM-Song "Waka Waka" auf die Melodie eines afrikanischen Militärmarschs der 80er Jahre zurückzugreifen. Ins Deutsche übersetzt, bedeutet der Refrain: "Mach’s einfach!"
Das dachte sich auch Gringo Mayer. Mit "Gibt’s do’ net" hat der 32-Jährige dieses Jahr den ersten kurpfälzischen EM-Song veröffentlicht. Der hat nicht nur Ohrwurm-Qualität, sondern fährt auch die Verbalgrätsche aus: Mayer attackiert die Kommerzialisierung des Fußballs.
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Grund genug, den kritikfreudigen Musiker zu fragen: Worauf kommt es bei einer Fußballhymne wirklich an? Und wieso begleiten uns manche über Jahrzehnte hinweg, während andere in Vergessenheit geraten? Aus Gründen der Überparteilichkeit haben wir auch einen unabhängigen Schiedsrichter zur Videoanalyse geladen: Udo Dahmen, Professor an der Popakademie Baden-Württemberg.
Für die RNZ haben sich Mayer und Dahmen Musikvideos von zehn EM- und WM-Songs angeschaut, und herausgearbeitet: Was sind Fußballlieder, bei denen Musik und Text funktionieren? Und warum will genau dieses Zusammenspiel bei anderen einfach nicht klappen?
WM 1974 – "Fußball ist unser Leben" (Deutsche Nationalmannschaft): Schon beim Vorspiel pfeift Gringo Mayer vergnügt mit. "Absolut legendär", meint der Musiker. Auch wenn er den Text von "Fußball ist unser Leben" mit einem schmunzelnden "joh …" abtut, will er keine Negativkritik äußern. "Auch fast 50 Jahre danach ist das doch immer noch der WM-Song schlechthin." Mayers Urteil: "Daumen hoch – top, top, top!"
Für Udo Dahmen ist es bemerkenswert, dass das Lied in einer Zeit entstand, als Fußball scheinbar noch mit einem marschmusikähnlichen Humba-Täterä-Sound assoziiert wurde: "Eigentlich verwunderlich für die Siebziger Jahre", findet der Wissenschaftler.
EM 1996 – "Three Lions (Football’s Coming Home)" (Lightning Seeds): Geht es nach Udo Dahmen, dann servieren die Lightning Seeds mit "Three Lions (Football’s Coming Home)" alle Ingredienzen, die es für den perfekten Fußballhit braucht. Ganz oben auf der musikalischen Zutatenliste stehen die Attribute poppig und mitsingbar. Dahmen beschreibt den EM-Song 1996 als eine Chorhymne.
Mayer ist ähnlich enthusiastisch. Im Gegensatz zu "Fußball ist unser Leben" attestiert er diesem Lied einen zeitlosen Klang. "Musikalisch ist das für mich der beste Song, der jemals über Fußball geschrieben wurde." Ein bisschen Indie hört Mayer raus und ganz viel Großbritannien. Der Musiker gibt aber zu: "Die EM 1996 in England war das erste Fußballturnier, das ich als Siebenjähriger halbwegs bewusst miterlebt habe." Auch daher rührt das emotionale Urteil: "Saugut und das wird es auch immer bleiben."
WM 1998 – "Carnaval de Paris" (Dario G): "Die Melodie ist gut, jeder kennt sie – und wahrscheinlich gab es sie auch schon vorher", vermutet Gringo Mayer. Für ihn schwingt bei "Carnaval de Paris" eine chanson-artige Qualität mit. Vier Minuten am Stück möchte er sich den Song zur Fußball-WM 98 in Frankreich allerdings nicht anhören. "Klar, ein Ohrwurm – aber es haut mich jetzt nicht um."
Udo Dahmen kann sich aufgrund seiner Vielseitigkeit schon eher für das Instrumental des britischen DJ-Trios Dario G begeistern: "Das Lied ist ein absoluter Stilmix!" Musette, mexikanische Trompete, kubanische Montuno, Dudelsack und brasilianisches Batucada-Feeling kann Dahmen heraushören. "Und das alles kombiniert mit einer Fußballhymne."
WM 2006 – ’54, ’74, ’90, 2006" (Sportfreunde Stiller): Die Sportis dürfen sich freuen, denn Udo Dahmen fällt ein klares Urteil: "Diese Hymne passt ins Fußballstadion – Rock’n’Roll at its best!"
Gringo Mayer kann dem nur zustimmen. Den Text findet er schön, die Musik solide. Dass die Band mit einer Neuaufnahme des Lieds bei der WM 2010 erneut erfolgreich war, überrascht ihn nicht.
WM 2006 – "Zeit, dass sich was dreht" (Herbert Grönemeyer): "Ewig nicht mehr gehört", kommentiert Gringo Mayer zu Beginn. Als im Refrain das charakteristische "Oooeee-oooeee-oooeee" einsetzt, weiß er auch wieder warum: "Das ist too much!" Grönemeyer habe im Laufe seiner Karriere großartige Sachen komponiert, Mayer wäre es aber lieber, der Sänger würde thematisch bei der Liebe bleiben. "Grönemeyer singt über Fußball? Und dann noch so ernst? Nein, das geht gar nicht – da krieg’ ich einen Ekel."
Udo Dahmen formuliert seine Einschätzung diplomatischer: "Der Song lebt vom brasilianischen Feel in Verbindung mit der Melodie zum Mitsingen."
WM 2010 – "Waka Waka (This Time for Africa)" (Shakira): "Afrikanisches Feel, dazu karibischer Reggaeton und, durch Shakira, südamerikanischer Groove", beschreibt Udo Dahmen. "Das bringt gute Laune aufs Spielfeld." Auch Gringo Mayer freut sich: "Bei den Fußballszenen im Video krieg’ ich direkt Bock auf ein Turnier ". Den Refrain singt er gut gelaunt mit. Klar, sei die Melodie einfach bis plump, aber das Lied gefällt ihm: "Coole Gitarre, schöner Rhythmus, dazu die afrikanischen Klänge: Daumen hoch, Shakira!"
WM 2014 – "Auf uns" (Andreas Bourani): Das Lied symbolisiert für Gringo Mayer im Vergleich zum bisher Gehörten einen Bruch. "Schade, dass dieses für Deutschland so erfolgreiche Turnier von so einem Song begleitet wurde." Für ihn ist "Auf uns" glattgebügelter Kommerz – und austauschbar: "Das ist Teil dieser Radiomusik, die seit Jahren kommt: Bourani, Giesinger, Bendzko. Die nehmen einem doch die Lust aufs Leben." Das Urteil des Songwriters: "Furchtbar!"
Udo Dahmen geht nicht ganz so hart mit Bourani ins Gericht: "Obwohl ’Auf uns’ keine offizielle Hymne der WM war, wurde es zum besten Song – natürlich vor allem aus Sicht der deutschen Fans. Das Lied eignet sich bestens zum Mitsingen."
WM 2018 – "Zusammen" (Fanta 4, Clueso): Im Gegensatz zu den bisherigen WM- und EM-Liedern hört Udo Dahmen hier einen zynischen Unterton heraus: "Vor allem in der Art, wie die Story im Video erzählt wird", erklärt der Professor. – Mayer hat gegen Fanta 4 generell zwar nichts einzuwenden, glaubt aber, dass deren Zeit vorbei ist. "Zusammen" findet er nur noch peinlich. In einem Wort: "Fremdscham".
EM 2021 – "We are the People" (U2, Martin Garrix): "Ein klassisches The-Edge-Riff – damit kriegen sich mich ja fast immer", meint ein schmunzelnder Gringo Mayer. Aber die Zuneigung zum U2-Gitarristen und deren älterer Alben wie "Joshua Tree" hilft den Iren nicht: "’I feel your heart beating in my chest’– da krieg ich das Kotzen. ’Faith’, ’no fear’ – diese ganzen Schlagwörter ..." Mayer stört, dass sich die Band harmloser Heile-Welt-Klischees bedient. "Hier gilt das Gleiche wie bei Fanta 4: Die Gruppe ist eine Karikatur ihrer selbst. U2 sollte abdanken." – Dahmen weist dagegen einmal mehr auf den hymnischen Charakter hin – "typisch für U2". Der aktuelle EM-Song betone die Gemeinsamkeiten, die der Fußball sichtbar macht.
EM 2021 – "Gibt’s do’ net" (Gringo Mayer): Zum Abschluss darf sich der künstlerische Leiter der Popakademie Baden-Württemberg zum ersten kurpfälzischen Fußballhit äußern. "’Gibt’s do’ net’ ist die Ausnahme unter den EM- und WM-Songs", betont Udo Dahmen. "Das Lied kommentiert das, was während des Spiels alles nicht klappt, aus Sicht eines Fans."

Gringo Mayer selbst sagt, dass sein Song vergleichsweise rockig klingt – "tiefer Bass, harte Snare ..." Das Lied sei aber mit einem Lächeln eingesungen worden. Dem in Mannheim lebenden Sänger war es wichtig, nah dranzubleiben, an den Menschen der Region. "Der Song ist nicht gekünstelt." Bewusst habe er auch Kritik am "überbewerteten Fußballapparat" geübt. Schlussendlich riskiert er das selbstbewusste Fazit: "Der beste EM-Song, den es dieses Jahr geben wird!"
Stolz ist Mayer übrigens auch auf die Schauspielkünste, die er im Musikvideo zur Schau stellen darf. Sein launiger Clip ist an einen anderen Fußballhit angelehnt: "Mexico, mi armor", von Peter Alexander und der Nationalmannschaft.



