Dinara Wagner

Junge Heidelbergerin mischt Schachwelt auf

Karpow, Kasparow, Carlsen – jeder kennt sie. Die junge Heidelbergerin hat soeben den "Fide Women’s Grand Prix" gewonnen und spielt Schach auf Top-Niveau.

08.07.2023 UPDATE: 09.07.2023 06:00 Uhr 5 Minuten, 57 Sekunden
Die 24-jährige Dinara Wagner aus Heidelberg ging beim Grand Prix in Nikosia an den Start – und errang sensationell den Turniersieg. Foto: Mark Livshitz​

Von Steffen Rüth

Heidelberg. Man muss sich Dinara Wagner als freudestrahlende Frau vorstellen. "Das ist der größte Erfolg meines Lebens", sagt die 24-Jährige, nachdem sie sich vor wenigen Wochen vollkommen unerwartet den Sieg beim vierten und finalen Turnier der "Women’s Grand Prix"-Serie auf Zypern geholt hat. "Ich bin überglücklich, denn damit habe ich wirklich nicht gerechnet."

Dinara Wagner lebt seit zwei Jahren in Heidelberg und ist Schachspielerin, Profi-Schachspielerin. Allerdings: Im Feld der zwölf Frauen, die elf Tage lang hintereinander jeweils um Punkt 15 Uhr im Jede-gegen-jede-Modus in einem etwas lichtarmen Konferenzraum des Hilton Hotels in Nikosia gegeneinander antraten, ist sie auf dem Papier die krasse Außenseiterin. Mit Rang 42 auf der Frauenweltrangliste und der – beim Schach die Spielstärke beschreibenden – von allen Teilnehmerinnen niedrigsten Elo-Zahl von 1417 hatte so gut wie niemand aus der Schachwelt die Heidelbergerin auf dem Zettel, die überhaupt nur mit einer Wildcard nach gewonnener Qualifikation ins topbesetzte Turnier gekommen war.

Doch dann wächst Wagner über sich hinaus. "Gleich im ersten Spiel habe ich Alexandra Goryachkina, die Vizeweltmeisterin und Weltranglistenzweite, geschlagen, das war ein Superauftakt." Gefeiert habe sie die kleine Sensation nicht, erzählt die junge Schachspielerin später im Hotel, als sie mal kurz ein halbes Stündchen Zeit hat.

Die Turniertage in Nikosia sind eng getaktet. Frühstück, Videobesprechung mit dem Trainer, Mittagessen, die tägliche Partie, Abendessen, Onlinegespräch mit Ehemann Dennis Wagner, der ebenfalls Schachspieler ist, Ausruhen, Bett. Nur am Abend der Eröffnungszeremonie gönnt sich Dinara Wagner ein Getränk und sitzt noch eine Weile mit ein paar Kolleginnen zusammen. "Freundinnen sind wir nicht", sagt sie, "aber wir gehen freundlich miteinander um."

Später im Turnier wird Wagner auch die Weltranglistenvierte Kateryna Lagno besiegen und ihrem, wie sie sagt "großen Vorbild" Alexandra Kosteniuk ein Unentschieden abringen. Mit sieben von elf möglichen Punkten holt sie sich schließlich den ersten Platz, ein Preisgeld von 15.000 Euro und die Großmeister-Norm (dank einer Turnier-Elo-Leistung von 2601). In der Weltrangliste macht sie einen Sprung auf Rang 28, die bestplatzierte Deutsche, Elisabeth Pähtz, steht aktuell auf Platz 17.

Zum Schachspiel kam Dinara schon als kleines Mädchen. "Mein Opa hat mir die Züge gezeigt, ich mochte das Spiel auf Anhieb. Meine Oma hat mich dann mit sechs Jahren im Schachclub angemeldet." So jung sollte man auch sein, wenn man mit dem Sport beginnt, findet sie. Dinara Wagner, geborene Dordschijewa, ist in Elista aufgewachsen, der Hauptstadt der zu Russland gehörenden autonomen Republik Kalmückien. Die knapp 300.000 Einwohner sind mehrheitlich mongolischer Abstammung und buddhistischen Glaubens. Wer Kalmückien auf der Landkarte sucht, wird nordwestlich des Kaspischen Meeres fündig.

Dinara wird im Schach sehr schnell sehr gut, gewinnt mit zehn Jahren erste Meisterschaften und lernt 2019 bei einem Turnier in Riga den in Kassel geborenen Kollegen Dennis Wagner kennen. Sie heiraten Ende 2021. Nach der Invasion Russlands in die Ukraine spielt Dinara Wagner zunächst unter der Flagge des Internationalen Schachverbands Fide (Fédération Internationale des Échecs); nur Russinnen und Russen, die nicht für ihr Heimatland antreten, dürfen weiterhin an den von der Fide ausgerichteten Turnieren teilnehmen. Seit Mai 2022 startet sie für Deutschland. "Es hat sich gut gefügt", erklärt sie.

Die Wagners leben in Heidelberg. "Ich liebe diese Stadt", schwärmt Dinara. "Heidelberg ist wirklich wunderschön. Wir unternehmen viel, erkunden die Gegend und planen hier auch unsere Zukunft." Ihr Mann Dennis hat in Heidelberg Physik studiert, arbeitet inzwischen bei SAP und spielt Schach als Halbprofi. Dinara, die bereits in Moskau einen Bachelor-Abschluss in Weltwirtschaft gemacht hat, studiert Volkswirtschaft, Spezialgebiet Verhaltensökonomie. "Das ergänzt sich gut. Sowohl in meinem Studium als auch beim Schach geht es sehr viel um Psychologie." Ob Dinara Wagner nach ihrem Studium als Profi-Schachspielerin weitermacht, hängt auch davon ab, "wie es in den nächsten Jahren so läuft", sagt sie.

Denn Schach hat ein echtes Problem: Frauen sind in der Sportart, die seit Jahren vor allem dank der immer finessenreicheren Möglichkeiten des Online-Schachs in aller Welt einen Boom erlebt, stark unterrepräsentiert. Daran hat auch die extrem erfolgreiche Netflix-Serie "Das Damengambit" nicht allzu viel geändert. Im Deutschen Schachbund zum Beispiel gibt es 89.400 Mitglieder, darunter sind lediglich 8297 Frauen, also weniger als zehn Prozent. Unter den ersten hundert der Weltrangliste steht derzeit keine einzige Frau. In der (gemischten) deutschen Rangliste liegt Elisabeth Pähtz, die deutsche Nummer eins bei den Frauen, gerade mal auf Platz 58.

Dabei haben Männer im Schach per se keinen Vorteil gegenüber Frauen. Die Ungarin Judit Polgár, die als erfolgreichste Schachspielerin aller Zeiten gilt, schaffte es 2005 in der Weltwertung auf Platz acht, sie schlug unter anderem die Ex-Weltmeister Anatoli Karpow und Garri Kasparow, zog sich dann aber 2014 vom Profischach zurück.

"Was dem Schach derzeit noch fehlt, sind weibliche Stars für ein neues Zeitalter", sagt Fide-Präsident Arkady Dworkowitsch. "Wir brauchen nur noch ein bisschen Zeit. Ich bin optimistisch, dass auch bei den Frauen eine schillernde Persönlichkeit heranwachsen wird, so wie bei den Männern beispielsweise ein Magnus Carlsen." Der 32-jährige Norweger ist seit anderthalb Jahrzehnten quasi das Gesicht des Sports. Ihn kennen selbst Menschen, die beim Schachspiel den Springer nicht vom Bauern unterscheiden können.

An und für sich ist Schach – so wie zum Beispiel Spring- oder Dressurreiten – eine Sportart, in der Frauen und Männer zusammen gegeneinander antreten. In der Schachbundesliga bilden Frauen und Männer gemeinsame Teams, und nach wie vor gibt es die sogenannten offenen Turniere, bei denen Frauen jedoch meist das Nachsehen haben. Der Grund ist banal: Es spielen einfach viel weniger Frauen auf Spitzenniveau Schach als Männer, das Verhältnis liegt beharrlich bei eins zu zehn. Allein die Wahrscheinlichkeitsrechnung sorge so dafür, dass "Schach immer noch als eine Männersportart wahrgenommen wird", wie Dinara Wagner es formuliert.

Andere Mutmaßungen hinsichtlich des Gendergaps im Schachsport sind eher auf der sexistischen Seite des Spektrums angesiedelt: dass Männer mehr Ausdauer und Durchhaltevermögen hätten beispielsweise, außerdem eine größere Bereitschaft, die nötigen 40 bis 60 Wochenstunden in ihren Sport zu investieren. Diese – auch in Nikosia von den Funktionären immer wieder mal genannten – Thesen gehören schlicht auf den Müllhaufen der Gleichberechtigungsgeschichte.

Kern der Strategie des Internationalen Schachverbands sei es in jedem Fall, so Arkady Dworkowitsch, immer mehr attraktive Turniere nur für Frauen zu veranstalten. Wie die vierteilige "Women’s Grand Prix"-Serie, die in diesem Jahr – neben Nikosia – auch in München Station machte. Parallel steigen die Preisgelder, Frauen sollen so ermutigt werden, dranzubleiben und die Profi-Option nicht spätestens mit Mitte zwanzig zu verwerfen.

Sponsor des mit 100.000 Euro dotierten Turniers auf Zypern etwa ist das Fintech- und Finanzdienstleistungsunternehmen Freedom Finance des kasachischen Milliardärs Timur Turlov. Der baumlange Mittdreißiger ist an den ersten Turniertagen allgegenwärtig und alles andere als medienscheu.

Zum Schachspiel sei er über seine sechs schachbegeisterten Kinder gekommen, erzählt er. Auch fördere das Spiel analytische Fähigkeiten, die gerade in der Finanzbranche gefragt seien. Die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen der Europazentrale von Freedom Finance im südzypriotischen Badeort Limassol und dem Austragungsort im eine Autostunde entfernten Nikosia geben könnte, liegt nahe, wird aber nicht weiter thematisiert. Lieber tönt Turlov: "Unsere Mission ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch Frauen im Schach ganz nach oben kommen."

Neben mehr Geld, so sieht es Dinara Wagner, die übrigens gegen Frauen und Männer gleich gerne spielt, wäre auch mehr Wertschätzung nicht schlecht. "Ich finde es super, dass es immer mehr Möglichkeiten für Frauen gibt, Schach auf Topniveau zu spielen und dass der Fide viel unternimmt, um die Lücke zwischen Frauen und Männern zu schließen", sagt sie. "Allerdings ist es mindestens ebenso wichtig, dass sich Frauen und Mädchen im Schach wohl und sicher fühlen. Sexismus, dumme Sprüche und Anmachen gibt es auch bei uns. Auch bei gemischten Turnieren sollte dringend mehr für ein freundliches und empathisches Umfeld getan werden, das Frauen er- und nicht entmutigt."

Sie selbst, so erzählt Dinara Wagner, habe großes Interesse, ihr Wissen und Können später in Seminaren oder Masterklassen an Mädchen (und auch an Jungen) weiterzugeben. "Ich freue mich, wenn es neue, insbesondere weibliche, Talente in Deutschland gibt, die Lust auf Schach haben, und denen ich vielleicht ein bisschen helfen kann." Aber momentan fehle ihr die Zeit. Warum? Ganz klar: Dinara Wagner ist gerade voll damit ausgelastet, selbst ein Schachstar zu werden.



ELO-ZAHL

Arpad Elo, US-amerikanischer Physiker und Statistiker ungarischer Herkunft, entwickelte ab 1959 die nach ihm benannte Wertungszahl, die die Spielstärke von Schachspielern aufgrund statistischer Auswertung bisheriger Turnierergebnisse beschreibt. Die sogenannte Elo-Zahl lässt auch Prognosen über Erfolgsaussichten gegen andere Spieler zu. Das objektive Wertungssystem wurde schließlich 1970 vom Weltschachverband Fide übernommen ("Fide rating system") und ist mittlerweile im Schach weltweit Standard. Es wird aber auch zur Messung der Spielstärke in anderen Sportarten angewandt, etwa im Tischtennis und sogar im Fußball.

Elo-Ranking: Nach Einführung der Elo-Zahl als Wertungssystem hatte zunächst Bobby Fischers Bestmarke von 2785 Punkten (1972) jahrelang Bestand. 1999 erreichte dann der damalige Schachweltmeister Garri Kasparow die Elo-Zahl von 2851 Punkten, die erst 2013 von Magnus Carlsen mit 2861 Punkten übertroffen wurde. Inzwischen konnte Carlsen den eigenen Rekord auf 2882 erhöhen.

Arpad Elo – der als passionierter Schachspieler bis 1980 die entsprechenden Berechnungen für die Fide noch selbst durchführte – wandte in seinem 1978 erschienenen Buch "The rating of chess-players past and present" seine Formel auch rückwirkend an, um historische Elo-Zahlen für alle bedeutenden Schachmeister ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu ermitteln.

Über das von ihm entwickelte System äußerte er sich später durchaus auch kritisch: "Manchmal denke ich, ich habe Frankensteins Monster erschaffen! Die jungen Spieler interessieren sich mehr für die Elo-Wertung als für die Dinge auf dem Brett." teu