Nein, logisch ist das alles nicht
Mit "Rheingold" startet der neue "Ring des Nibelungen" unter der Leitung von Cornelius Meister.

Von Thomas Rothkegel
Bayreuth. Der Vorhang zu – und alle Fragen offen. Es sind keine Cliffhanger wie bei Netflix, die sich Regisseur Valentin Schwarz zum Vorbild seiner "Ring"-Inszenierung in Bayreuth genommen hat. Was ratlos macht, sind die Regieansätze, sie missachten die innere Logik des Werks.
Doch der Reihe nach. Der Anfang überwältigt. Auf einer gigantischen Leinwand werden Wellen projiziert, doch nicht vom Rhein. Denn in ihnen taucht eine Doppelhelix wie eine DNS auf. (Video Luis August Krawen) Sie dreht und verwandelt sich in die Nabelschnüre zweier Embryonen. Der eine drückt dem anderen ein Auge aus: Alberich und Wotan, Nacht- und Lichtalbe sind letztlich Geschwister. Das ist der Ansatz von Valentin Schwarz.
Dazu erklingen aus dem Graben unter der Leitung von Cornelius Meister die ersten Töne des Es-Dur-Akkords. So leise hat man das Festspielorchester in den letzten Jahrzehnten nicht gehört. Wenn sich der Vorhang hebt, blickt man auf den Swimmingpool von Walhall. Das ist – obwohl es erst noch von den Riesen gebaut werden muss – längst von der Göttersippe bezogen. Im Pool tummeln sich Kinder mit ihren drei Gouvernanten.
Die Rheintöchter (Lea-Ann Dunbar, Stephanie Houtzeel, Katie Stevenson) passen auf die Götterbrut auf (die es bei Wagner nicht gibt), werden aber von Alberich abgelenkt. Er raubt ihnen kein Edelmetall, nach dem der erste Abend des vierteiligen Werkes benannt ist. Er entführt ihnen die Kinder – besonders hat er es auf einen Jungen in der gelben Arbeitskleidung der Deutschen Post abgesehen. Nun gut. Alberich entwendet unter Zuhilfenahme einer Pistole kein Gold, sondern Humankapital, auf das der Kapitalismus gleichermaßen angewiesen ist.
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Aus den Tiefen des Rheines hinauf auf wolkige Höhen. Bühnenbildnerin Andrea Cozzi lässt den Pool mit Parkett abdecken, auf das die Innenräume Walhalls geschoben werden. Die sehen aus wie die abgeschmackten Interieurs von wohlsituierten Bösewichtern in schlechten Krimiserien: In viel Sichtbeton stehen Designermöbel herum. Das Arbeitszimmer des Starjuristen Wotan im Obergeschoss ist ganz in Holz gefasst. Natürlich fahren die beiden Architekten im Zuffenhausener SUV bei Wotan vor und verhandeln über die Zahlungsmodalitäten. Vereinbart war ja, den beiden baukundigen Riesen die Schwägerin Wotans zu überlassen. Doch Freia hat darauf keine Lust, und so wird nach einem Ausweg gesucht.
Loge – der schmierige Adlatus Wotans – reist mit dem Hausherrn nach Nibelheim, wo der ungeliebte Alberich wohnt. Ganz in Holz – wie das Büro seines vermeintlichen Bruders – hat der sich dort eine Art Kinderparadies für die entführten Kleinen eingerichtet. In weiß-rosa Kleidchen sitzen da Mädchen mit BDM-Frisur, während der postgelbe Knabe mit ADHS-Syndrom Tomatensuppe auf Fenster und Wände schmiert. Das mag Alberich besonders gern. Denn er lässt ihn später auf seiner Schulter reiten – um den Besuchern Angst einzujagen. Nein, logisch ist das alles nicht.
Zurück in Walhall, sitzen die restlichen Götter im Wohnzimmer, wo Alberich von Wotan das Gold abgepresst wird. Als die Riesen Freia gegen das Gold eintauschen wollen, mischt sich Erda ein, die von Anfang auf der Bühne ist. Den Riesen wird schließlich ein widerstrebendes Mädchen übergeben. Später auch noch der Junge (der den goldenen Ring verkörpert). Doch wenn alle Kinder, den Hort, also das Humankapital bilden, warum bleibt dann die Mehrzahl von ihnen in Nibelheim zurück, obwohl ja nach Wagner vom Hort nichts übrig bleibt, nachdem Freia ausgelöst worden ist? Oder ist die ganze Sippe ein Pädophilenring? Viele Ungereimtheiten.
Man kann sicherlich den "Ring" als Familiendrama erzählen. Dann aber muss man eine psychologisch ausgefeilte Personenregie vorlegen. Tatsächlich ist in Wagners Mammutwerk eine dysfunktionale Familie zu erleben. Doch man muss dann eben zeigen, wie groß die Unterschiede zwischen gefordertem und gelebtem Verhalten sind. Das wäre ein interessanter Ansatz. Das Ganze einfach in ein Netflix-Setting zu setzen, ohne den Inhalt des Werks zu berücksichtigen, ist zu wenig.
Auch musikalisch ist die Sache noch nicht ausgereift. Leise zu dirigieren, ist noch keine Interpretation der Wagnerschen Partitur. Cornelius Meister lässt sogar bei den Verwandlungsmusiken zwischen den einzelnen Schauplätzen extrem zurückhaltend spielen. Dabei gilt es hier aufzutrumpfen, zumal Wagner ja Schmiedehämmer komponiert hat. Die kommen blechern aus Lautsprechern und werden rhythmisch überhaupt nicht mit der Musik aus dem Graben koordiniert. Der ehemalige Heidelberger Generalmusikdirektor muss in den weiteren Abenden nachlegen.
Sängerisch gab die Besetzung ein disparates Bild ab. Gemeinsam war fast allen Solistinnen und Solisten, dass kaum ein Wort zu verstehen war, obwohl Meister kaum sängerfreundlicher hätte dirigieren können: Niemand auf der Bühne musste sich anstrengen, über das Orchester zu kommen. Der lettische Bassbariton Egils Silins gab Wotan mit wohlklingender, gut geführter Stimme. Den Widersacher Alberich verkörperte der isländische Bariton Olafur Sigurdarson. Auf der einen Seite sang er stimmgewaltig, auf der anderen übte er sich über weite Strecken im Sprechgesang. Daniel Kirch gab einen eloquenten Loge. Sein Tenor ist leicht und biegsam, wie es der Gott des Feuers und der List braucht. Arnold Bezeuyn übernahm die Partie des Mime, also des tatsächlichen Bruders von Alberich. Er ließ seinen hellen Tenor mal gellend klingen, dann wieder klagend in wunderbarem legato strömen. Okka von der Damerau sang eine beeindruckende Erda. Stimmkultur vom Feinsten. Hervorzuheben ist noch Raimund Nolte, der mit seiner metallischen und schlanken Stimme dem golfspielenden Donnergott beeindruckende Kraft verlieh.
Bei einer Netflixserie muss die erste Folge sitzen, damit die Zuschauer dranbleiben. Da muss das Team im Sinne der Werkstatt Bayreuth noch kräftig nacharbeiten. Neugierig darf man auf die folgenden Teile sein, weil man sehen will, ob und wie die losen Enden der Ideen, die bislang nicht zueinander passen wollen, doch noch verbunden werden können.



